Lufthansa-Mitarbeiter üben in einer virtuellen Welt die Sicherheitsdurchsuchung von Flugzeugen. Und das ist nur der Anfang.
Wer das neue Virtual-Reality-Hub der Lufthansa-Tochter Lufthansa Aviation Training (LAT) betritt, wird vom Rücken von Georgiana Sola empfangen. Sie sitzt hinter einem Tresen und überwacht neun Monitore gleichzeitig. Sola ist schlank, blond gefärbt, mittleren Alters und war früher Flugbegleiterin. Jetzt ist sie Panel Operatorin und überwacht, wie die Flugbegleiterinnen ihr Training absolvieren, für das sie mit einer Virtual-Reality-Brille (VR-Brille) kurzzeitig in eine künstliche Umgebung verschwinden.
Auf den Monitoren sieht sie im Vordergrund, was die neun Lufthansa-Mitarbeiterinnen in ihren VR-Brillen sehen. Über ein kleineres Bild auf dem Monitor sieht sie die Personen.
Jede Mitarbeiterin steht in einer der neun drei mal drei Quadratmeter großen Kabinen und hat einen schwarzen Apparat auf dem Kopf: die VR-Brille. Dadurch schauen die Flugbegleiterinnen nicht auf das, was real vor ihnen liegt, sondern stehen plötzlich im Gang zwischen den Sitzreihen eines virtuellen Flugzeugs. Ihre Aufgabe: Gefährliche Gegenstände zu suchen, die im Flugzeug versteckt sein könnten.
Diese Sicherheitsdurchsuchung müssen Flugbegleiter ein Mal im Jahr auffrischen – das ist gesetzliche Auflage. Seit April machen sie das nicht mehr in einem richtigen Flugzeug, sondern in einer virtuellen Umgebung.
Was sie dort tun sollen, sagt ihnen Via – ein kleiner weißer Flugroboter der in der virtuellen Welt durch die Luft fliegt und Anweisungen gibt.
Länger als 20 Minuten sollte der virtuelle Einsatz nicht dauern.
Von außen sieht das ziemlich komisch aus: Da ist eine Person in einem leeren Raum und bewegt sich zielgerichtet, scheint genau zu wissen, was sie tut: Geht in die Hocke, verdreht den Kopf, streckt sich, kriecht auf dem Boden herum und macht Handbewegungen als würde sie etwas greifen. Dabei ist da eigentlich nur: Luft.
Ist nicht ein Monitor in Sichtweite positioniert, so sieht nur der Brillenträger selbst die virtuelle Realität, die ihm der Apparat zeigt. Sensoren beobachten zahlreiche Körperbewegungen des Brillenträgers und die Software reagiert darauf. Schaut er auf seine linke Handinnenfläche, sieht er dort das Menü mit den bevorstehenden und absolvierten Aufgaben, eine Uhr am Handgelenk zeigt an wie viel Zeit für die Übung bleibt.
Diese neue Trainings-Technik ist ein Leuchtturmprojekt für LAT. Damit ist sie zwar nicht die erste weltweit, die sich für die Ausbildung in eine virtuelle Welt und damit auf neues Terrain wagt. Europaweit allerdings sei das „Setup einmalig“, sagt Marc Langsteiner, der für das Projekt VR-Brille verantwortlich ist und sich bei LAT um die Weiterentwicklung des Trainingsportfolios kümmert. Bei American Airlines werde die VR-Technik bereits für einfache Einweisungen eingesetzt – nicht aber zur Vermittlung oder Abfrage von Wissen verwendet, so Langsteiner. Und bei der niederländischen Fluglinie KLM, die auch bereits VR einsetzt, werde die Technik im viel kleineren Stil genutzt. Langsteiner und sein Team hingegen planen, schon im ersten Jahr 20 000 Mitarbeiter mit der VR-Brille trainieren zu lassen.
„Es war eine große Herausforderung, die Software auf die unterschiedlichen Erfahrungen der Nutzer mit der neuen VR-Technologie anzupassen“, sagt Sebastian Demmerle. Der 42-Jährige ist Geschäftsführer und Mitbegründer der Firma NMY, die die Software für LAT programmiert hat und zeichnet verantwortlich für das technische und didaktische Konzept. Auf ihn geht auch NAME Flugroboter zurück. Er soll es auch Neulingen einfach machen, in der Anwendung zurechtzukommen.
Die einen kennen VR-Brillen schon sehr gut durch Computerspiele, andere hingegen sind noch nie damit in Berührung gekommen. Das bemerkt auch Panel-Operatorin Sola. Hat sie den Eindruck, dass jemand „lost“ ist, also nicht mehr so recht weiß, was er tun soll, dann klinkt sie sich ins Training ein und gibt Hinweise: „Schau mal links. Da sind noch solche Fächer“, sagt sie dann etwa. Oder: „Eine Pistole? Zeig mir die mal.“ Und wenn sie den Eindruck hat, dass die Person desorientiert ist oder Hilfe braucht, sagt sie: „Ok. Ich komme.“
In Bluejeans, hellblauem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und hellbraunen Lederschuhen sitzt Demmerle im großzügigen Empfangsraum des firmeneigenen Showrooms seiner Firma in der Hanauer Landstraße und berichtet davon, wie er und seine Mitarbeiter diese virtuelle Trainingswelt erschaffen haben.
Mitarbeiter haben zunächst am Münchener Flughafen einen Airbus 320 gescannt und dann ein dreidimensionales Modell daraus erstellt. „Eine große Herausforderung war, die Komplexität der analogen Welt ins Digitale zu transponieren“, sagt Demmerle. Also die VR-Technik, die bisher in der Regel nur eine Umgebung für Computerspiele schafft, für die Vermittlung von Lerninhalten zu nutzen. Außerdem wurde an vielen Details der Darstellung gefeilt. So wurden beispielsweise der nichtvorhandene Lichteinfall in die Fenster des virtuellen Flugzeugs und viele andere Details nachträglich künstlich erzeugt.
Die Anmutung ist so real geworden, dass sowohl Sola bei der Einweisung als auch der kleine Flugroboter, der im Training die Anweisungen gibt, darauf hinweisen, dass sich die Teilnehmer nicht anlehnen oder festhalten sollen.
Als Innovationsstudio für Mixed-Reality-Technologien beschäftigen sich Demmerle und sein rund 40 Köpfe umfassendes Team zwar täglich mit halb- oder ganz virtuellen Welten. Schon 2007 – noch bevor Apple sein erstes I-Phone auf den Markt brachte – hat seine Firma einen sogenannten Multi-Touch-Table für Flugzeugbauer Airbus erschaffen, der damals noch EADS hieß. Doch innerhalb von einem guten halben Jahr eine einsatzbereite VR-Technologie zu präsentieren, war auch für sie „sportlich“, sagt Demmerle. Um es den Nutzern einfach zu machen, ist das Training „sehr stark geführt“, sagt er. Über den kleinen Flugroboter beispielsweise.
Flugbegleiterinnen, die das Training absolviert haben, bezeichnen es als „sehr realitätsnah“. Zudem fördere es die Exaktheit, sagt eine erfahrene Mitarbeiterin. Namen zu nennen, hat LAT der FR nicht erlaubt. Schließlich registriert die Apparatur genau, wie der Kopf geneigt wird und schließt daraus, ob der Übende auch tatsächlich in dieses Fach oder jene Ecke geschaut hat.
„So individuell ist das Training im Flugzeug gar nicht darstellbar“, sagt Langsteiner. Dadurch, dass jede für sich den Sicherheitscheck alleine durchgehen müsse, biete das virtuelle Training eine „wesentlich höhere Immersion in die Realität“ als das bisherige Training. Da nämlich gehen die Flugbegleiter gruppenweise durch das Flugzeug und müssen ihre Checklisten abhaken. In der VR-Kabine hingegen ist jede allein in ihrer virtuellen Welt.
„Länger als 20 Minuten sollte man sich nicht in der virtuellen Welt bewegen“, sagt Langsteiner. Sonst drohten unter Umständen körperliche Reaktionen wie Unwohlsein oder ähnliches.
Langsteiner bezeichnet das Projekt unbescheiden als eine „neue Dimension des Lernens“. Mit diesem Initialprojekt starte LAT nun ins virtuelle Training. Aktuell werde das gesamte Trainingskonzept überdacht. „Wir identifizieren Einheiten, die wir digital abbilden können“, sagt Langsteiner. In Frage komme dafür beispielsweise das Servicetraining, bei dem die Flugbegleiter lernen, die Trolleys mit Essen, Getränken und Utensilien zu bestücken.
Komplizierter ist es bei der Frage, ob Trainings zum Öffnen der Türen und anderen Abläufen in Frage kommen. Schließlich muss dafür nicht nur der Handgriff sondern auch die Muskelkraft trainiert werden. Doch auch das sei nur eine Frage der Zeit, sagt Langsteiner. „Wir gehen davon aus, dass wir in drei bis fünf Jahren auch haptische Trainings einsetzen können“, sagt er.
Zur Investitionssumme will Langsteiner keine Auskunft geben. Schon im ersten Jahr rechnet er aber mit Einsparungen von mehr als 75 Prozent. Der Grund: Bislang mussten reale Flugzeuge für das Training bereitgestellt werden. Und zwar bis zu drei Flugzeugtypen pro Person. „Der Flieger aber verdient nur Geld in der Luft“, sagt Langsteiner. Im virtuellen Training hingegen können alle Besonderheiten in einem geschult und abgefragt werden.
Quelle:
Foto: Wo ist die Pistole versteckt? Ein Flugzeug wird für das Training nicht mehr gebraucht. © Christoph Boeckheler
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