Im Physikunterricht der Heinrich-Schickhardt-Schule in Freudenstadt finden VR-Brillen Verwendung. Der Einsatz der Technik im Klassenraum ist etwas völlig Neues – und könnte für die Vermittlung von Inhalten und die Berufsvorbereitung wegweisend sein.
Vor Thomas Heils Augen erscheint ein riesiges Mikroskop. Der Schüler neigt den Kopf leicht nach links – und das Okular des Geräts schwebt ihm entgegen. Daneben erscheint ein Text, der den 16-Jährigen darüber informiert, dass bereits Johannes Kepler an seinem Teleskop ein Okular verwendete. Thomas Heil ändert erneut die Blickrichtung: Das Mikroskop schwebt wieder vor seinen Augen. Noch ein paar Mal mit dem Kopf nicken, dann erscheint ein Abbild unseres Sonnensystems vor den Augen des Schülers.
Das alles klingt nach einem Traum, ist aber Realität – virtuelle Realität (VR), um genau zu sein. Tatsächlich sitzt der Schüler im Physiksaal der Heinrich-Schickhardt-Schule (HSS) in Freudenstadt. Lernen im Jahr 2019 – das geht auch mit der Datenbrille, findet Physiklehrer Holger Steimle. Seit Dezember vergangenen Jahres nutzt der Lehrer regelmäßig VR-Brillen in seinem Unterricht. Die Brillen – das betont Steimle – werden irgendwann Teil des beruflichen Alltags seiner Schüler sein.
Die 24 Schüler befinden sich auf dem Weg zur Mittleren Reife und besuchen die zweijährige Berufsfachschule für das Berufsfeld Elektrotechnik. Irgendwann werden sie vielleicht als Elektroniker oder Mechatroniker arbeiten. Virtual Reality könnte dann bereits wichtig sein. Das erklärten Nico Schoch (15), Nils Frey (16) und Florian Sengstock (15) ihren Mitschülern. Die drei waren als gute Physikschüler die ersten Ansprechpartner von Holger Steimle, als es darum ging, Virtual Reality in den Klassenraum zu holen: „Ich kannte VR bisher nur von Spielekonsolen. Als ich davon gelesen hatte, dass man damit auch das Planetensystem erkunden kann, hat mich das schon sehr interessiert“, sagt Nico Schoch.
Brille und Handy erschaffen Räume
Die Brillen, die der Schule von der Firma Zeiss zur Verfügung gestellt wurden, funktionieren in Verbindung mit den Smartphones der Jugendlichen: Zwei Linsen richten das virtuelle Bild, das vom Smartphone-Display stammt, für jedes Auge leicht anders aus. Das Gehirn kann aus der Differenz der vorliegenden Bilder die räumliche Beschaffenheit berechnen. Dieses Phänomen heißt „stereoskopisches Sehen“: Die Augen nehmen die Bilder so wahr, als wären sie die Wirklichkeit, und im Gehirn entsteht ein virtueller Raum. Die Imitation wird perfekt durch die Bewegungssensoren des Handys, die es ermöglichen, dass sich die Person – mit VR-Brille auf der Nase – im Raum umschauen kann.
Bisher wird im Unterricht der HSS vor allem auf die von Zeiss bereitgestellte MINT-App zurückgegriffen. Diese bietet verschiedene Inhalte zu den Themenfeldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik: Das Sonnensystem kann erkundet, der Aufbau des menschlichen Auges hautnah erlebt und verstanden werden, wie ein Mikroskop eigentlich funktioniert.
Physiklehrer Steimle führt den Schülern auch Lehrfilme vor, die als sogenannte immersive Videos einen Blick in alle Richtungen ermöglichen. Inhalte, die auf „Augmented Reality“, also dem Anzeigen virtueller Inhalte in der realen Welt, basieren, sind dank der Handykameras ebenfalls möglich. So lassen etwa Barcodes Figuren auf einem Würfel erscheinen.
Schüler erkunden Möglichkeiten
Für Holger Steimle ist es auch wichtig, im Dialog mit den Schülern zu erkunden, wie die Datenbrillen den Unterricht sinnvoll ergänzen können: „Eine Schwierigkeit ist es, die Inhalte des Lehrplans mit dem Einsatz der Brillen zu verbinden. Die Schüler kommen aber oft selbst mit Ideen an: So lassen sich graue Theorie und bunte Praxis gewinnbringend miteinander verbinden.“ Um diese Symbiose zu erreichen, können die Schüler jederzeit eine der 90 Brillen, die der HSS zur Verfügung stehen, mit nach Hause nehmen und dort die Möglichkeiten der virtuellen Welten erkunden.
Die Faszination, die von Inhalten der virtuellen Realität ausgeht, kann auch abseits von Lerninhalten Spaß bringen: „Die Impression einer virtuellen Achterbahnfahrt haben wir mal ausgereizt, als ein Schüler mit der Brille auf der Nase auf einem Stuhl saß, an dem die anderen dann je nach Fahrtrichtung gerüttelt haben“, so der Physiklehrer.
Thomas Heil und seine Klassenkameraden schätzen die Ausflüge in virtuelle Welten während der Doppelstunden bei Holger Steimle: „Es bringt Abwechslung, aber vor allem versteht man vieles besser, wenn man mittendrin ist“, sagt der Schüler, als er sich die Brille vom Kopf zieht – und statt der virtuellen Realität wieder den Physiksaal seiner Schule um sich hat.
Quelle:
https://www.neckar-chronik.de/Nachrichten/Pauken-im-virtuellen-Raum-414704.html
Foto: Schüler an der HSS nutzen ihre Handys mit den VR-Brillen, um in die virtuelle Realität einzutauchen.
Unser Sonnensystem vom Physiksaal aus erkunden: Virtual-Reality-Brillen ermöglichen mehr Anschaulichkeit im Unterricht.Bilder: Mathias Huckert