Kurz mal in die Zukunft gebeamt: Wie sieht die Welt von morgen aus? Durch die „virtuelle Realität“ verschmelzen analoger und digitaler Raum immer stärker miteinander. Früher oder später, glauben Experten, wird es kaum mehr erkennbare Schnittstellen geben. Ein Besuch bei den Schöpferinnen und Erschaffern unserer neuen, digital veränderten Realität.
Dieburg/Frankfurt – Rosa-blaue Luftblasen schwirren um die Schwanzfedern des Kolibris, es sind fantastische Lichtreflexe. Der Vogel schaut mich an, während er sich aufgeregt zwirbelnd in der Schwebe hält. Sphärische Musik füllt den Raum, aus dem Hintergrund dringen Satzfetzen von Frank Gabler und seinem Kollegen Philip Hausmeier zu mir durch. Um was es geht, kann ich nicht sagen. Volle Konzentration auf den Kolibri. Wenn ich die Hand nach ihm ausstrecke, kommt er herbeigeflogen und flattert über meiner Handfläche in der Luft.
Am Mediencampus Dieburg können Studierende Expanded Realites lernen
Gabler und Hausmeier sehen das nicht. Für sie muss es ein merkwürdiges Bild sein, wie ich durch eine „HoloLens“-Brille des Herstellers Microsoft zu ihnen schaue und immer wieder die Hände vor mich halte. Ich wiederum sehe alles. Die beiden Professoren, den Raum, in dem wir stehen, und den Vogel, der ziemlich echt wirkt. Natürlich weiß ich, dass er eine gutprogrammierte Mischung aus Pixeln und Algorithmen ist, eine „Augmented Reality“ (AR), eine perfekte Illusion. Als ich den Kolibri streicheln will, zerplatzt der Traum. Mein Griff geht ins Leere.
Eine Stunde zuvor, in der analogen Realität. Der Transponder piept, ein Lichtsignal springt auf Grün. Wir schieben uns an Pappkarton-Stapeln vorbei, in denen kürzlich noch Curved-Monitore lagerten. Kurz vor dem Semesterstart ist noch nicht alles aufgeräumt. Frank Gabler zieht entschuldigend die Schultern hoch und lässt den Transponder wieder fiepen. Diesmal landen wir im Seminarraum, in dem die ausgepackten Monitore auf mobilen Stehtischen installiert sind.
Schon auf dem Weg dorthin war der Professor immer wieder stehen geblieben, um über sein Fachgebiet zu sprechen. Er ist Physiker, hat am CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung, in der Schweiz gearbeitet, aber seit Jahren beschäftigt er sich vor allem mit der virtuellen und der erweiterten Realität. Jetzt ist er Studiengangsleiter des Bereichs Expanded Realities an der Hochschule Darmstadt am Mediencampus Dieburg.
VR- und AR-Brillen sind nur eine Übergangslösung
Stolz erzählt er, dass seit 2018 ein Bachelor für erweiterte Realitäten angeboten wird. „Der erste dieser Art in Deutschland“, sagt er. Von Grund auf sollen die Studierenden dort die Techniken, Theorien und gestalterischen Grundlagen zur Erschaffung von neuen Realitäten lernen. Danach, da ist sich Gabler sicher, kreieren und programmieren die Absolventinnen und Absolventen die Lebenswelt von morgen maßgeblich mit. Sie werden das erschaffen, was wir in naher Zukunft Realität nennen werden.
Die „Virtual Reality“ (VR) ist gerade gefühlt überall, wo Menschen Neues ausprobieren. Mit klobigen Brillen vorm Gesicht kann man in Ausstellungen durch die Gemälde Alter Meister laufen, im Jahr 2023 soll sogar die „Parsifal“-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen in Teilen virtuell erlebbar sein.
Aber auch an weniger öffentlichkeitswirksamen Orten wird die VR-Technik mittlerweile eingesetzt. Virtuell rekonstruierte Tatorte helfen der Polizei bei Ermittlungen, Feuerwehrübungen in gefährlichen Situationen können digital simuliert werden. In der Industrie dienen Daten-Brillen dem Überwachen von Abläufen und der Produktentwicklung. Und die „HoloLens“, die mir den Kolibri vorgaukelte, wird vom US-Militär genutzt, um Angriffsszenarien durchzuspielen.
Ihr Nischendasein haben VR und AR also schon seit einiger Zeit verlassen. Von Formvollendung könne man aber noch nicht sprechen, wie Frank Gabler sagt. „Die Brillen sind nur eine Übergangslösung, ein Anfang.“ Was uns bevorstehe, sei eine Entwicklung, die die revolutionärste unserer Zeit seit Erfindung des Internets sein könnte. „Unsere physikalische Welt wird mit der digitalen Welt verschmelzen“, sagt der Professor, während er durch die Räume der Hochschule führt. „Aber momentan befinden wir uns sozusagen noch im Zeitalter der Dampfmaschinen.“
Frankfurter Künstlerin programmiert virtuelle Stadtbepflanzung
An das Potenzial der neuen, digitalen Möglichkeiten glaubt auch Nadine Kolodziey. Die Künstlerin hat an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert, gibt dort aktuell einen Kurs im Bereich „Immersive Comic“ und arbeitet im Basis Atelierhaus in Frankfurt. Unter anderem. Denn eigentlich sind ihr Arbeitsplatz und ihr Ausstellungsort potenziell überall dort, wo das Internet gut genug ist.
Mit iPad und Smartphone in der Hand führt sie mich durch das Frankfurter Bahnhofsviertel. Menschen unterschiedlichster Herkunft, Shisha-Bars, Kioske – all das rauscht am Rande unserer Wahrnehmung vorbei. Denn eigentlich sind wir ganz woanders unterwegs, auf einer für Außenstehende unsichtbaren Ebene: in Kolodzieys Kunstwelt.
Die eröffnet sich, wenn wir Smartphone oder iPad über die Umgebung gleiten lassen. Dann ploppen bubbleartige, illustrierte Pflanzen auf dem Gehweg auf oder lilafarbene Objekte, die an Coronaviren erinnern. Kolodziey hat Poster mit QR-Codes an verschiedene Stellen im Viertel gehängt – in der analogen Realität –, die als mögliche Eingänge zu ihrer erweiterten Welt dienen. Die Poster klappen dann virtuell auf, sie bewegen sich, werden durch unsere smarten Bildschirme zum Leben erweckt. Manche Werke können wir sogar wie Gärten betreten. „New Nature“ nennt die Künstlerin ihre digitale Stadtbepflanzung.
Um diese Welten zu erschaffen, nutzt Kolodziey Filter, die auf sozialen Plattformen wie Instagram und Snapchat funktionieren. So können sie theoretisch von jeder Person, die ein Smartphone besitzt, abgerufen werden. Diese Art der erweiterten Realität sei schon sehr niedrigschwellig, sagt Kolodziey. Und auch sie findet: „Das ist erst der Anfang von etwas viel Größerem. Und es ist toll, jetzt mit dabei zu sein.“
Große Konzerne arbeiten an einem räumlichen Internet
An der Idee, dass wir bald überall im Alltag digitale oder virtuelle Informationen in unserer realen Umwelt abrufen können, arbeiten auch die großen Internetkonzerne, erklären Frank Gabler und sein Kollege Philip Hausmeier, der als Professor für Experience-Design ebenfalls im Studiengang Expanded Realities lehrt. Vorstellbar wäre, dass sich etwa durch das Anfassen von Waren im Supermarkt oder durch das bloße Anschauen eines Gegenstands eine neue, erweiterte Ebene öffnet. Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt des Möglichen.
Die Vision von Google, Facebook und Co. ist es, ein räumliches, allumfassendes Internet zu erschaffen. Damit wäre es zum Beispiel möglich, als holografisch erstellter Avatar an einem ganz anderen Ort zu sein, als der eigene physische Körper ist. Dabei stellt sich allerdings ein ganzes Bündel an ethischen und politischen Fragen – auch religiösen und transhumanistischen, wie Gabler hinzufügt. Zum Beispiel: Wie kann die Übermacht der Internetkonzerne, ihr Einfluss auf das Individuum und auf die Gesellschaft unter Kontrolle gehalten werden? Welche Persönlichkeitsrechte besitzt mein Avatar? Wie definieren wir Leben, Körper und Bewusstsein? Welche Regeln gelten in dieser neuen Welt und wer bestimmt sie? Bislang hängen aktuelle politische Entscheidungen eher den technischen Entwicklungen hinterher, sagen die Professoren – zumal sie national gefällt werden, das Internet aber eine globale Community ist.
Frank Gabler deutet im Seminarraum um sich. „Im Grunde arbeiten wir hier mit an einer neuen Mensch-Maschine-Schnittstelle“, sagt er. Momentan bräuchten wir zwar noch diese unhandlichen VR- oder AR-Brillen, um Zugriff auf erweiterte digitale Ebenen zu haben. „Aber in ein paar Jahren werden die Dinger so klein sein wie Lesebrillen. Oder noch kleiner.“ Gabler spricht es nicht aus, aber die Vorstellung von digitalen Kontaktlinsen oder ins Auge operierten Linsen scheint ihm nicht komplett abwegig. Das klinge etwas sehr nach Cyborg, gibt der Professor zu. „Aber sind wir nicht eigentlich schon längst auf dem Weg dahin?“
Bislang steht das Visuelle und Akustische im Vordergrund
Die Entwicklungssprünge in der Chiptechnologie und der Künstlichen Intelligenz, neue Erkenntnisse in der Neurowissenschaft und der Wahrnehmungspsychologie – all das befeuere auch das Heranwachsen einer „Mixed Reality“, in der analoge und digitale Realitäten koexistierten.
Aber, vielleicht zum Glück, gibt es etwas, das der wirklichen Immersion, dem kompletten Eintauchen in eine virtuelle Welt, im Weg steht: die Haptik, wie am Beispiel des Kolibris gesehen. Digitale Dinge lassen sich einfach nicht anfassen, zumindest nicht ohne Hilfsmittel. In einer Semesterarbeit, die die Professoren über eine VR-Brille abspielen, versetzen Studierende die Userinnen und User in die virtuelle Realität einer Spielklötze-Fabrik. Dort können sie Bausteine färben und aufeinanderstapeln – anfassen kann man die Klötze mithilfe von Controllern.
Bei der Erschaffung der VR oder AR stehe bisher das Visuelle und Akustische im Fokus, sagt Gabler. Aber auch die Sensorik werde schon erforscht. Etwa, wie Gewicht und Stofflichkeit simuliert werden können. „Mit Handschuhen“, überlegt Gabler, „denkbar wäre aber auch ein Armband, das Impulse auf die Nerven schickt und die Sinne direkt anspricht oder ausliest.“ Was dann alles möglich wäre? Ein Kolibri, der sich wirklich auf die Hand setzt, dessen Gefieder und Körpergewicht man tatsächlich spüren kann? Die Vorstellung ist faszinierend, aber auch ein wenig beunruhigend. Wie unecht wäre dieser Vogel dann noch?
Virtuelles Rhein-Main
Virtual Reality (VR) ist eine computergenerierte, interaktive Umgebung, die durch immersives Erleben als real empfunden wird. Augmented Reality (AR) ist die Erweiterung der analogen Realität durch digitale Informationen.
An der Hochschule Darmstadt werden im Studiengang Expanded Realites die Grundlagen von AR und VR gelehrt. Infos unter: www.h-da.de.
In Frankfurt können Interessierte unter dem Titel „Augmented Bahnhofsviertel“ digitale Kunstwerke im Stadtraum auf ihrem Smartphone abrufen. Das Projekt wird vom Künstlerhauses Freitagsküche initiiert. Infos: www.broadcastsfromthekitchen.de.
Ab 19.10.2021 bietet die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt Goethes „Faust“ als interaktive VR-Experience an.
Arbeiten der Künstlerin Nadine Kolodziey sind zu finden unter www.nadinekolodziey.comund auf Instagram unter nadinekolodziey.
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Foto: Die virtuelle Natur der Frankfurter Künstlerin Nadine Kolodziey ist nur durch einen smarten Bildschirm zu sehen. © Nadine Kolodziey