Angststörungen können behandelt werden, wenn der Patient sich der angstauslösenden Situation aussetzt. Doch der Zugang zu dieser Therapie ist hürdenreich. Eine Lösung könnte gefunden sein, jedoch nicht in der realen Welt.
Der Hörsaal ist voll. Der Puls der Patientin steigt. Vor Menschen zu sprechen macht ihr Angst, sie leidet unter Sozialphobie. Aber das Publikum guckt gerade so freundlich, dass die Situation für die Patientin stressig, aber machbar ist. Denn eigentlich gibt es den Hörsaal gar nicht. Die Patientin steht in einem nur zwölf Quadratmeter großen Raum. Auf einem Bildschirm überwacht ein Therapeut ihre Stresswerte, er kontrolliert die Situation. Eine Virtual-Reality-Brille versetzt die Patientin in die gefürchtete Situation.
Das Paderborner Start-up Psycurio entwickelt solche virtuellen Welten, in denen Patienten sich ihren Ängsten stellen. „Für unser Gehirn macht es keinen Unterschied, ob ich etwas in der echten oder virtuellen Welt mache“, sagt die Gründerin Daniela Schumacher. Wenn Avatare sich bewegen und verhalten wie Menschen, fühlt die Szenerie sich für Patienten echt an, erklärt Thies Pfeiffer, der am Bielefelder Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie zu Virtual-Reality- und Mensch-Maschine-Interaktion forscht. Die Qualität der Darstellung sei gar nicht so ausschlaggebend. Diese Eigenheit des menschlichen Gehirns könnte die Psychotherapie revolutionieren.
Vor allem für die Therapie von Angststörungen bietet sich die virtuelle Realität an. Therapeuten arbeiten dabei klassischerweise mit der sogenannten Expositionstherapie: Der Patient wird schrittweise mit der gefürchteten Situation konfrontiert und hält die Angst so lange aus, bis sie nachlässt. Irgendwann lernt das Gehirn, mit der Situation umzugehen
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. „Für die Therapie von Phobien braucht ein Therapeut gut beherrschbare, angstauslösende Situationen“, sagt Mathias Müller, Geschäftsführer von VTplus, einem Würzburger Virtual-Reality-Unternehmen. Einen Turm besteigen oder einen turbulenten Flug erleben – das könne man auch in der virtuellen Welt machen.
Diese Möglichkeiten erforscht der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Peter Zwanzger, am kbo-Inn-Salzlach-Klinikum in Wasserburg am Inn. Die Virtual-Reality-Therapie sei nicht nur kostengünstiger und zeitsparender umzusetzen als die analoge Expositionstherapie, sondern für Patienten auch leichter zugänglich, sagt Zwanzger. Die Aussicht, im Rahmen einer Therapie tatsächlich ins Flugzeug zu steigen, eine Spinne zu berühren oder vor hundert Menschen zu sprechen, schrecke viele Patienten ab. Diese Hemmschwellen sind bei der Virtual-Reality-Therapie geringer, hat Zwanzger in seinen Studien festgestellt.
Trotzdem lässt der Durchbruch der neuen Methode auf sich warten. Sowohl VTplus als auch Psycurio verhandeln aktuell mit Krankenkassen. Würden sie die Kosten für die Virtual-Reality-Therapie übernehmen, könnten die VR-Brillen schon bald in viele Praxen einziehen, sind Müller und Schumacher überzeugt. Peter Zwanzger ist etwas zurückhaltender mit Prognosen: „Gerade in der Medizin gehen Wunsch und Wirklichkeit oft auseinander.“ Technisch sei vieles möglich – was davon therapeutisch sinnvoll und praktisch anwendbar sei, sei eine andere Frage. Pilotstudien würden die Wirksamkeit der Virtual-Reality-Therapie zwar nahelegen – eine richtige Grundlagenforschung mit mehreren Hundert Probanden fehle aber noch.
Zwanzger arbeitet als Mitglied eines Expertengremiums an den neuen Leitlinien für die Therapie von Angststörungen. An diesen sogenannten S3-Leitlinien können Therapeuten sich orientieren – sie geben einen Überblick über anerkannte medizinische Verfahren. Die aktuelle Version aus dem Jahr 2014 rät für bestimmte Phobien zur Virtual-Reality-Therapie, allerdings nur, wenn eine echte Konfrontation nicht umsetzbar ist.
Mathias Müller würde da gern weiter gehen. Seiner Vorstellung nach ist das Erleben der echten Situation nur noch das i-Tüpfelchen am Ende der Therapie. Psycurio setzt sogar auf die rein virtuelle Therapie, immer mit menschlicher Begleitung. Gründerin Schumacher ist überzeugt: „Die Virtual-Reality-Therapie ermöglicht eine moderne, für den Patienten weniger unangenehme, sehr effektive Therapie.“
Peter Zwanzger stimmt ihr da zwar zu. Vieles ist für ihn aber noch Zukunftsmusik. „Ich bin der Meinung, dass Patienten ein Recht darauf haben, dass die Wirksamkeit einer Therapie erwiesen ist.“ Deshalb werden auch die neuen S3-Leitlinien keine uneingeschränkte Empfehlung für diese Art der Therapie enthalten – aber zumindest den Hinweis auf eine vielversprechende neue Technologie.
Quelle:
https://www.welt.de/regionales/nrw/article195605045/Angststoerungen-Diese-Eigenheit-des-Gehirns-koennte-die-Psychotherapie-revolutionieren.html