Spatial Computing hilft bei der Optimierung von Bewegungsabläufen. In dieser Funktion kann es beispielsweise bei der Fabrikplanung, der Indoor-Navigation und der Intra- und Outbound-Logistik unterstützen. Wie das funktioniert, lesen Sie hier.
Die Idee, den physischen Raum als integralen Bestandteil von computergestützten Erlebniswelten zu betrachten, begegnen wir im Consumer-Umfeld an vielen Stellen – oftmals, ohne es zu bemerken. Sei es das Uber-Taxi, dessen Ankunft wir über eine App verfolgen, der Rasenmäher-Roboter, der in der Pole Position auf seinen Einsatz wartet oder die Anzeige über die Ankunft der nächsten U-Bahn: Wo immer Bewegungsabläufe optimiert werden können, ist Spatial Computing zur Stelle. So auch im weiten Feld der Navigation. Zwar geben wir mit Google Maps unseren Standpunkt preis, bekommen dafür aber den idealen Weg allen Staus zum Trotz zu unserem Ziel aufgezeigt.
Spatial Computing – Kurzdefinition
Der Fachbegriff Spatial Computing setzt sich aus dem englischen Adjektiv „spatial“, was mit „räumlich“ übersetzt werden kann, und dem zugehörigen Substantiv „computing“ zusammen. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck also „räumliches Rechnen“.
Aus technischer Sicht integriert Spatial Computing mittels Software die Benutzeroberfläche des Computers nahtlos in die dreidimensionale physische Welt. Hiermit eng verbunden sind daher die Gebiete der Virtual Reality (VR), der Augmented Reality (AR) sowie der Mixed Reality (MR).
Anders ausgedrückt nutzt man somit den physikalischen Raum, um mit einem Computer zu interagieren, also Eingaben zu senden und dafür Ausgaben zu erhalten. So wird die Interaktion mit einem Computer losgelöst von einem statischen physischen Standort beziehungsweise der Hardware-Peripherie möglich, indem man ihn beispielsweise mit Körperbewegungen, Gesten oder der Sprache steuert.
Der Terminus wurde 2003 von Simon Greenworld geprägt.
Im professionellen Kontext offenbart Spatial Computing beispielsweise für Lieferdienste von Waren oder Speisen einen besonderen Wert. Wie sonst käme der Lieferant schnellstmöglich zum bestellten Essen im Restaurant in meiner Nachbarschaft und von da aus zu meiner Lieferadresse?
Spatial Computing birgt aber auch im B2B-Umfeld, etwa in der Fabrikplanung oder der Indoor Positionsbestimmung erhebliches Potenzial. Allerdings: Ist es im Straßenverkehr noch relativ einfach, einen optimierten Weg von A nach B zu berechnen, weil es im Prinzip nur die Optionen links, rechts und geradeaus gibt, ist man in einer Fabrik mit wesentlich komplexeren Wegverläufen konfrontiert. Die räumliche Ausdehnung einer Fabrik muss entsprechend viel genauer erfasst werden und die Software deutlich mehr Optionen einbeziehen, auch Gefahrenzonen oder Rampen. Auch in der Intra- und Outbound-Logistik hat sich Spatial Computing seine Meriten verdient: Die am stärksten nachgefragten Produktgruppen werden in einem Lager so angeordnet, dass sie am schnellsten abtransportiert werden können.
Spatial Computing ermöglicht Verschmelzung von digital und real
Kreative Entwickler sind derzeit dabei, Spatial Computing im Bereich der industriellen Anwendung auf die nächste Stufe zu heben. Durch die geschickte Kombination von Technologien wie Augmented Reality (AR), Industrial Internet of Things, Machine Learning und Sensorik und deren Schnittstellen lassen sich Fertigungsprozesse weiter optimieren, deren Design und Bedienung massiv vereinfachen. Detailkenntnisse über jeden noch so kurzen Prozessschritt offenbaren neue Einsichten und fördern effizienteres und schnelleres Arbeiten, sparen Zeit und Energie.
Datenqualität nachhaltig steigern
Mit dem Einzug des IIoT ist der Einsatz von Bearbeitungszentren in den Fabrikhallen auf Basis von MES-Konzepten optimiert worden. Im Zuge der Einführung von Manufacturing Execution System (MES, auch: prozessnahe Produktionsfeinplanung) wurde die Überwachung der einzelnen Fertigungszellen zentralisiert, mehrere Maschinen parallel beobachtet und ihre Taktung aufeinander abgestimmt. Nun gilt es, die immer anspruchsvoller werdenden Tätigkeiten der Werker genauer mit den Maschinenabläufen zu synchronisieren.
Spatial Computing erlaubt es, Prozessanweisungen durch einen klaren räumlichen Bezug zu veranschaulichen und damit besser nachvollziehbar zu machen. Etwa bei der Programmierung der Industrieroboter.
Bisher werden diese umständlich über 2D-Interfaces programmiert („Teach-in“, auch als Einlernen zu verstehen). Um diese komplizierte Programmierumgebung zu verstehen, ist eine langwierige Ausbildung nötig. Spatial Computing indes senkt die Abstraktionsebene des Teach-in deutlich. Über ein Interface lassen sich Handlungsanweisungen intuitiv mit dem physischen Aktionsraum des Roboters verknüpfen. Etwa, indem der Roboter mit einer Armbewegung die Richtung vorgeben wird, oder Wegpunkte mit einem Smartphone platziert werden.
Wenn dann noch mehrere Maschinen und Roboter miteinander verbunden werden müssen, wird der Vorteil von Spatial Computing noch offensichtlicher: In einer Fabrik, in der große Mengen an Sensoren ihren Dienst verrichten, gilt es aktuell immer noch, Unmengen an Zeitreihen in Dropdown-Menüs auf dem Desktop zu inspizieren – es ist eine echte Herausforderung, den Überblick aufgrund der unterschiedlichen Datenstrukturen zu behalten. Spatial Computing kann aufzeigen, an welcher Stelle auf dem Shopfloor ein Fehler aufgetreten ist und eine AR-Anwendung dem Mitarbeiter den Weg dorthin weisen. So lässt sich die Produktivität insgesamt signifikant steigern und die Frustration der einzelnen Werker aufgrund von an sich unnötigen Rückfragen deutlich senken.
Mehr Leistung für digitalen Zwilling durch Spatial Computing
Neben den Maschinen können über Kameras auch die Bewegungen von Materialien, Werkzeugen und Werkerinnen nachverfolgt und ausgewertet werden. Waren bisher die tatsächlichen Arbeitswege der Mitarbeiter oder von Gütern weitgehend unbekannt, kann nun der komplette Produktionsablauf einschließlich der Montagearbeiten genau dokumentiert werden. So können Initiativen entwickelt werden, die sich dieses Wissens zunutze machen. Spatial Computing entwickelt damit den digitalen Zwilling der Fabrik weiter. Künftig werden in Echtzeit nicht nur die Abläufe in der Maschine abgebildet, auch der digitale Zwilling des Werkers lässt sich kreieren: Es kann präzise erfasst werden, wo sich eine Person gerade befindet, was sie tut und welche Fertigkeiten sie besitzt. Weiß man beispielsweise, dass eine Person nur 10 Kilogramm heben kann, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen, sie aber gerade versucht, das doppelte Gewicht zu stemmen, erfasst das System automatisch den Konflikt, warnt die betreffende Person und fordert Unterstützung an. Dadurch können Arbeitgeber besser ihrer Aufsichtspflicht nachkommen.
Ein anderer, bemerkenswerter Aspekt von Spatial Computing sind seine analytischen Fähigkeiten: Über sogenannte Spatial Heat Maps erhalten Unternehmen Einblicke, an welchem Ort während des Arbeitsablauf sich die Arbeiter am häufigsten aufhalten, wo unverhofft Maschinenstillstand herrscht und welche Arbeitswege am meisten frequentiert werden.
Weiterentwickelte Kameras mit verbesserter räumlicher Auflösung und Machine Learning haben ein komplett neues Anwendungsfeld entstehen lassen. Neue Kameratechnologien erfassen nicht nur eine 2D-Aufnahme, sondern auch Entfernungsinformationen. Die fortschrittlichste Methode dabei funktioniert nach dem Time-of-Flight-Verfahren: Es wird die Zeit gemessen, die ein Lichtstrahl von der Kamera zum Objekt und wieder zurück infolge von Reflexion braucht. Die 3D-Bilder mehrerer Kameras können miteinander verknüpft und dadurch umfassendere Echtzeit-Simulationen der Realität erzeugt werden. In diese Szenen können AR-Anwendungen projiziert werden.
Prozesse über einen längeren Zeitraum erfassen
Das Recht auf Privatsphäre ist ein großes Thema, aktuell durch die DSGVO einmal mehr ins Lampenlicht gerückt. Da bei Spatial Computing auch die Bewegungsabläufe von Personen erfasst werden, muss der Schutz von Intimität berücksichtigt werden. Hierbei ist der wesentliche Punkt, welche Daten erhoben und wie sie verarbeitet beziehungsweise gespeichert werden.
Derzeit werden neue Prozesse vorab simuliert und schließlich am Ort der Implementierung ihre Dauer per Stoppuhr gemessen. Schon lange ist es üblich, entsprechende Daten, etwa gemäß der Vorgaben des REFA Bundesverbands, zu protokollieren. Auf dieser Basis werden Stückzahlen definiert, die pro Stunde erreicht werden sollen.
Die Gefahr besteht bei dieser Methode allerdings darin, dass die gemessenen Zeiten ungewollt Sondereffekte enthalten: Weiß ein Arbeiter, dass er beobachtet und seine Zeit protokolliert wird, strengt er sich vermutlich mehr an und arbeitet schneller. Dabei wird nicht in Betracht gezogen, dass er müde werden kann und je nach Tagesverfassung unterschiedliche Leistungen vollbringt. Denn es wird nur ein kurzer Ausschnitt unter Idealbedingungen abgebildet und in eine Vorgabe umgemünzt. Erfasst man hingegen mithilfe von Spatial Computing längere Etappen, zeigt sich ein wirklichkeitsgetreueres Abbild. Auf diese Weise lassen sich Daten viel präziser erheben und somit den Arbeitsplatz und die Leistungsvorgaben mit den Fähigkeiten der Werkerin besser in Einklang bringen. Je nach Richtlinien und internen Vorgaben werden dabei nur de-personalisierte Bewegungsmuster, nicht jedoch Videoaufnahmen im Sinne von persönlichen Daten gespeichert.
Potenzial für industriellen Einsatz noch nicht ausgeschöpft
Mittels vernetzter Kamerasysteme können komplette Produktionsstandorte aus der Ferne gesteuert werden. Interdisziplinäre Arbeitsgruppen können global auf Basis des digitalen Zwillings so kollaborieren, als säßen sie in einem Raum zusammen – sie können sich selbst sehen und im virtuellen Beobachtungsraum der Anderen bewegen.
Ist Spatial Computing im E-Commerce-Umfeld bereits sehr erfolgreich, sind für den effektiven Einsatz in der industriellen Fertigung noch weitere Forschung und Entwicklung notwendig. Durch das beschleunigte Arbeiten an entsprechenden Lösungen im regen Wissensaustausch mit anderen Protagonisten in diesem Metier ist jedoch davon auszugehen, dass in naher Zukunft Spatial Computing Teil des Innovationsportfolios von Unternehmen werden wird, die hier bereits sehr aktiv forschen. Entsprechend sollten sich die Kunden bereits heute darüber Gedanken machen, wie sie Spatial Computing in ihren Produktionsanlagen intelligent nutzen könnten.
Aktive Forschung an Spatial Computing
PTC betont das enorme Potenzial von Spatial Computing und investiert in diese Technologie nachhaltig, wohl wissend, dass das Potenzial längst noch nicht ausgereizt ist. Das Unternehmen stellt zum Beispiel die Vuforia Spatial Toolbox der Open Source Community zur Verfügung, damit diese eigene Programme entwickelt und voneinander lernt. Dabei arbeitet der Systemanbieter mit Partnern aus der Industrie und mit Universitäten wie dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) eng zusammen.
* Valentin Heun arbeitet als VP Innovation Engineering, Reality Lab bei PTC.
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Nach Einschätzung von Experten wird Spatial Computing die Industrie, beispielsweise bei der Nachverfolgung von Bewegungen verschiedener Art, prägen. (Bild: PTC)
https://www.industry-of-things.de/was-ist-spatial-computing-und-wie-setzt-man-es-ein-a-993788/