Was eine junge Technik
der älteren Generation zu bieten hat
Hört man Begriffe wie „Virtual Reality“, „Oculus Rift“ oder „Datenhandschuh“, denkt man möglicherweise als Erstes an junge Leute. An sogenannte Gamer, die im 3D-Raum Autorennen fahren oder das Schwert gegen eine Horde Orks schwingen. Aber VR kann viel mehr. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos und müssen von der Branche selbst noch ausgelotet werden. Längst ist zum Beispiel die virtuelle Reiseplanung machbar, Personal wird virtuell geschult oder Sicherheitstechnik in sicheren, weil simulierten Notfallsituationen getestet.
Wenn Virtual Reality derart vielfältig eingesetzt werden kann – was kann diese Technologie dann Senioren bieten oder in der Altenpflege leisten? Forschung und Wirtschaft müssen ihre Ideen noch erproben und auswerten, aber es gibt bereits eine Menge vielversprechender Ansätze.
Virtual Reality hebt die Stimmung und hilft beim Atmen
Das Start-up-Unternehmen AndersVR aus Stuttgart bietet Krankenhäusern, Pflegeheimen und Rehakliniken ein VR-Set an, das ältere oder pflegebedürftige Menschen mental unterstützen soll. Die Anwender begeben sich mithilfe der VR-Brille in idyllische Landschaften – raus aus dem Krankenbett, raus aus Heimroutine und Pflegealltag. Sie spazieren durch einen Wald oder stehen auf einer bunten Blumenwiese. Zusätzlich gibt es über eine App die Möglichkeit, nach Anleitung Atem- oder sanfte Yoga-Übungen durchzuführen.
Patienten und Bewohner sollen durch diese therapeutische Virtual Reality zu mehr Entspannung, Ruhe und Ablenkung finden. Die schönen Bilder und die ruhige Musik können die Stimmung heben und Stresshormone senken. Eine verbesserte Atmung und leichte Bewegungseinheiten tragen ebenfalls zum Wohlbefinden bei. In den Institutionen, in denen diese Technik eingesetzt wird, äußern sich die Anwender überwiegend positiv.
Virtual Reality als Fitnesstrainer für Best Ager
Obwohl es in Seniorenzentren und ähnlichen Institutionen oft viele Angebote gibt, um sich fit zu halten, wird häufig zu wenig Sport getrieben. Offenbar wird der innere Schweinehund mit uns zusammen älter und verliert dabei nicht an Überzeugungskraft. Im Rahmen eines Forschungsprojekts wurde 2016 an der dänischen Aalborg University (http://en.aau.dk) gezeigt, das Virtual-Reality-Technologien die Bewohner von Pflegeeinrichtungen zu mehr Bewegung motivieren können.
In einem Altenwohnheim in Kopenhagen wurde den Nutzern von Heimtrainern die Illusion vermittelt, sie radelten durch ansprechende Landschaften: hübsche Parks, sanfte Hügel, Winterwälder. Anfangs gelang dies durch große TV-Bildschirme; in einer zweiten Phase rüsteten Jon Ram Bruun-Pedersen, der Leiter der Studie, sowie die beteiligten Physiotherapeuten die Senioren mit VR-Brillen aus. Diese bescherten den Radlern ein 360-Grad-Naturerlebnis. Es wurde möglich, den Kopf zu drehen und sich wie in einer realen Landschaft umzusehen.
Die Auswertung der Studie ergab, dass die Virtual-Reality-Erfahrung die Senioren begeisterte und deren Wunsch, auf dem Home-Trainer zu trainieren, vergrößerte. Sie erlebten die sportliche Betätigung mit VR-Brille als kurzweiliger und erfüllender, weil sie körperlicher Aktivität in freier Natur nahekam. Sowohl Bewohner als auch Pflegepersonal sprachen sich am Ende der Erhebung in der Mehrheit dafür aus, die VR-Technologie als festes Angebot des Fitnessraums aufzunehmen.
Virtuell reisen – ohne Gehstock, Rollator oder Angst
Älteren Semestern, die wegen Gebrechen oder Krankheit nicht mehr reisen wollen oder können, ermöglicht Virtual Reality es, dennoch ferne oder fremde Orte zu besuchen. Noch einmal den liebsten Urlaubsort aufsuchen? Einen bisher unerfüllten Reisewunsch doch noch wahrmachen? Mit der richtigen Technik ist dies möglich – zumindest als täuschend echte Illusion.
Junge Unternehmen wie Rendever in den USA oder BuildVR in Australien entwickeln gezielt VR-Tools, mit denen Pflegeheimbewohner ihre räumlichen Einschränkungen überwinden können. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, die Technologien den Bedürfnissen der Senioren anzupassen. „Virtuelle Realität kann isolierend wirken“, führte Dennis Lally, Mitbegründer und CEO von Rendever, im November 2017 in einem Newsletter von Redshift by Autodesk aus, „aber mit unserer Software wird sie zu einer geselligen Erfahrung, über die sich die Menschen austauschen können.“ So lassen sich in Heimen virtuelle Gruppenreisen organisieren, die gemeinsame neue Eindrücke ermöglichen und gemeinschaftliche Erinnerungen schaffen. Zusammen entdeckt man Los Angeles, bestaunt die Niagarafälle oder fliegt sogar zum Mond. Das weckt die Lebensgeister und fördert die Kommunikation sowie den Zusammenhalt unter den Bewohnern.
Virtuell reisen – an vertraute Orte und in die Vergangenheit
Doch bei Reisen an beliebte Urlaubsziele oder exotische Sehnsuchtsorte soll es nicht bleiben. Die VR-Technik kann ihren Nutzer auch in den Kreis seiner Familie oder zurück in die Vergangenheit bringen.
So entwickelt die Firma Rendever beispielsweise derzeit eine Virtual-Reality-Lösung, die eine Art Videogespräch ermöglicht – allerdings in 3D. Herzstück ist eine 360-Grad-Kamera, an deren Standort man sich mit geeigneter Brille virtuell an einen bestimmten Raum begeben und in Echtzeit aufhalten kann. Der Enkelsohn, der am anderen Ende der Republik wohnt, feiert das Ende seines Studiums? Die beste Freundin, die nach Spanien gezogen ist, lädt zu ihrem siebzigsten Geburtstag ein? Mit dieser Technologie wäre es auch einem gebrechlichen oder pflegebedürftigen Menschen möglich, an solchen wichtigen Ereignissen im Kreise der Lieben teilzunehmen – wenn ein echter Besuch nicht machbar ist.
Einen anderen Ansatz, Virtual Reality nutzbringend für die ältere Generation einzusetzen, verfolgt die Demenzforschung. Sie wendet VR an, um die herkömmliche Erinnerungsarbeit, die bisher Fotos, Musikhits aus der Jugend oder alte Filme verwendet, effektiv zu erweitern. Den Demenzpatienten werden personalisierte Inhalte gezeigt: Sie setzen die 3D-Brille auf und stehen plötzlich wieder vor dem Haus ihrer Kindheit oder in einer Straße ihrer früheren Nachbarschaft. Ganz unmittelbar und lebensecht: eine neue Dimension von Erinnerungsarbeit.
Wie so etwas angenommen wird und welche Wirkung es hat, wird derzeit in der geriatrischen Abteilung des Cäcilien-Hospitals Hüls erforscht. Hier können Bewohner via Virtual Reality einen wichtigen Knotenpunkt in Krefeld, wie er in den 1950er- und 1960er-Jahren ausgesehen hat, besuchen. Die Agentur Weltenweber aus Krefeld hat mithilfe von über einhundert persönlichen Aufnahmen, die ihnen von Bürgern der Stadt zur Verfügung gestellt wurden, sowie historischen Aufnahmen ein virtuelles Abbild der Kreuzung Ostwall / Rheinstraße am Computer generiert. „Wir haben die bekannteste Straßenkreuzung Krefelds nachgebaut, die schon immer sozialer Dreh- und Angelpunkt gerade für Jugendliche und junge Erwachsene war“, erklärt Lukas Kuhlendahl, Co-Founder und Projektmanager bei Weltenweber. „Hier hat man sich zum Ausgehen getroffen oder um die beginnenden Schulferien zu feiern. Auch alle Straßenbahnlinien, die in Krefeld fahren, treffen an der Haltestelle Rheinstraße zusammen.“ Die Anwender stehen während der Simulation auf einem festen Beobachtungspunkt, ungefähr in der Mitte besagter Haltestelle, und können von dort aus dem Treiben um sich herum zusehen.
Es hat sich gezeigt, dass die Patienten der Klinik Spaß haben an dieser Reise in die Vergangenheit. Speziell für demente Menschen kann es außerdem beruhigend wirken, sich wieder wie in „ihrer“ Zeit zu fühlen. Dass alte Erinnerungen lebendig gehalten werden und präsent bleiben, gibt ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Zudem wird durch Erinnerungsarbeit – ob mit Musik oder Bildern, Filmen oder VR – das Langzeitgedächtnis stimuliert. Demenzpatienten werden wieder lebhafter und kommunikativer. Der natürliche Wunsch, das Wahrgenommene zu schildern und Erinnerungen zu teilen, schafft neue Verbindungen zu Bezugspersonen in der Gegenwart. Allerdings warnt Dr. Friedhelm Caspers, Chefarzt der Klinik für Akutgeriatrie und Frührehabilitation im Cäcilien-Hospital, vor unrealistischen Hoffnungen. Eine Heilung von Demenz sei auch von einer solchen VR-Therapie nicht zu erwarten. Man könne aber erreichen, dass Betroffene geistig angeregt und ihr Wohlbefinden verbessert würde.
Fazit und ein Ausblick
Die Virtual-Reality-Technologie steckt noch in den Kinderschuhen. Ihre Möglichkeiten – auch die, die sie für Senioren oder in der Altenpflege bietet – werden eben erst ausgelotet. Inwiefern sie tatsächlich die Gesundheit von älteren oder pflegebedürftigen Menschen fördern kann, muss erst noch durch wissenschaftliche Studien belegt werden. Erste Ansätze lassen zwar vermuten und hoffen, dass diese moderne Technik auch für die Generation 60 plus ein echter Gewinn sein kann. Aber ist ihre Anwendung im pflegerischen Echtbetrieb tatsächlich praktikabel? Kann VR wirklich Angstzustände, Depressionen oder chronische Schmerzen lindern, wie einige Mediziner anzunehmen wagen? Und wie sieht es mit einer Nutzung zu Hause aus? Hier sind noch viele Fragen offen und die Zukunft dürfte einige interessante Entwicklungen mit sich bringen.
Bereits durchgeführte oder laufende Erprobungen rund um Virtual Reality für Senioren zeigen immerhin schon, dass auch ältere Menschen Freude und Interesse an moderner Technik haben. Und dass sie ihnen gut tut. Denn die neuen Erfahrungen, die sie mit VR machen – ganz gleich, ob diese ihrer Fitness dient, sie mit ihrer Hilfe reisen oder schlicht Spiele spielen –, wirken kognitiv stimulierend und belebend. Sie möchten sich hinterher über das Erlebte und Gesehene austauschen, sich mitteilen und ihre Meinung äußern.
Genau dies ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn es um die Entwicklung von seniorengerechter Virtual-Reality-Technologie geht: Nicht nur sollte die Gestaltung der Inhalte eingängig und die Technik leicht zu handhaben sein. Beides darf nicht überfordern. Vor allem aber darf Virtual Reality ältere oder pflegebedürftige Menschen nicht isolieren. Während ein junger Gamer es vielleicht genießt, eine Zeit lang in einer anderen Wirklichkeit abzutauchen, ist es für Senioren ansprechender und wichtiger, dass auch diese Technologie die Kommunikation, die Geselligkeit und zwischenmenschliche Beziehungen fördert. Die simulierte Realität will gemeinsam entdeckt werden – oder zumindest sollte hinterher darüber gesprochen werden können.
Quelle:
Foto. Ein Demenzpatient hat Spaß in der Virtual Reality. – (c) ANDERS VR 2018 www.anders.life