Der Einsatz virtueller Welten in der Industrie muss nicht aufwendig sein. Der Industriedienstleisters Bilfinger zeigt, wie sie für mittelständische Unternehmen Daten sichtbar machen und damit Anlagen aufbauen und überprüfen.
Martin Karch nickt zufrieden. Dem Fachmann für Virtual Reality (VR) beim Industriedienstleister Bilfinger, gefällt, was er am Bildschirm sieht. In einer Chemie-Anlage, die in etwa die Größe eines Wohnzimmers hat, sollen zwei neue Tanks montiert werden. Damit auf der Baustelle der Austausch reibungslos klappt und die Monteure wissen, welche Ventile und Schrauben sie wann drehen müssen, simuliert der Chemieingenieur den Prozess am Rechner. Alles passt: Die Rohrleitungen kollidieren nicht mit den neuen Tanks. Die Anschlüsse stimmen, die Maßanfertigung der beiden Kunststoffbehälter kann losgehen.
In vier Wochen ist die Montage geplant. „Damit wir im Büro virtuell planen können, müssen wir die bestehende Anlage zuvor dreidimensional scannen“, verdeutlicht Karch was notwendig ist, damit VR funktioniert. Inzwischen ist das Verfahren geübte Praxis bei Bilfinger Peters Engineering. Für etliche Mittelständler simulieren Karch und Kollegen Reparaturen oder den Austausch von Anlagenkomponenten – ohne dass sie dafür ihren Standort in Ludwigshafen verlassen müssen.
Veränderungen im Prozess virtuell erleben
Doch die Verschmelzung von Virtualität und Maschine geht tiefer als eine Simulation. Forscher am Institut für Visualisierung an der Universität Stuttgart proben wie sich VR und Datenanalysen kombinieren lassen. Dr. Robert Krüger erklärt den Forschungsansatz: „Wir wollen Daten aus der Produktion verstehen, bevor sie entstehen“. Ein Projekt zeigt virtuelle Fertigungsprozesse, die im realen Raum abgebildet werden. Daraus wollen die Programmierer und Entwickler der Universität Potenziale ablesen. Anschaulich wird das am Beispiel einer Fertigungsstrecke zur Fahrradproduktion. „Wir können in der realen Werkshalle virtuelle Maschinen aufstellen und erleben, wie sich veränderte Prozesse auswirken“, erklärt Krüger. Und das, bevor die Produktionsstraße tatsächlich gebaut und in Betrieb genommen ist.
Für den Transfer solcher Anwendungen in die Industrie sind Leute wie Bilfinger-Experte Nicolas Spiegl zuständig. Er nutzt dafür – ebenso wie die Kollegen am Stuttgarter Campus – die erweiterte Realität (Augmented Reality, AR). Ausgestattet mit Datenbrillen schaut der Ingenieur Anlagen an und versucht herauszufinden, ob alle Anschlüsse passen oder wie sich neue Konstruktionen auswirken. Spiegl geht davon aus, dass bis in zwei Jahren deutlich mehr AR-Anwendungen verbreitet sind. Die neue Generation der Datenbrillen sei speziell für die Industrie entwickelt. Die Computer-Gläser müssen robust sein und „auch mal in die Werkzeugkiste geworfen werden können“, so Spiegl. Ebenso sind sie mit Sicherheitsbrillen und Schutzhelmen kombinierbar und können eine E-Geräte-Zertifizierung aufweisen, weil 80 % der Arbeiten in explosionsgefährdeten Arealen stattfinden. Spiegl sieht den Einsatz auch im Hinzuziehen von Fachexperten, die sich via Kamera auf die Brille schalten können. So sieht der Ingenieur im Büro mit den Augen des Monteurs in der Fabrikhalle.
Screensharing für die Fernwartung
Neben den Werkhallen halten virtuelle Konzepte auch in den Büros Einzug. Snapview-Gründer Erik Boos hat aus der Aufgabe, wie Kunden schnell und einfach Verträge unterzeichnen oder Produkte erklärt bekommen, ein Programm entwickelt, das Screensharings ermöglicht. Die Bildschirmübertragung bildete den Grundstein für die heutige Weiterentwicklung, die Videoberatung. Vorteile sieht Boos darin, den Gesprächspartner in Nürnberg oder New York zu sehen. Erklärungsbedürftiges werde so einfacher dargestellt und somit vom Gegenüber besser verstanden. Das baue Vertrauen auf und schaffe Kundenbindung, weiß Boos.
Was bereits in der Finanzwelt und in Reisebüros funktioniert, setzt sich derzeit in der Maschinenwelt durch. „Die größten Chancen sehe ich in der Fernwartung“, verdeutlicht Boos. Der Vorteil: Kosten für Flüge, Hotels und Spesen entfallen. Via integrierter Kamera gelangen Live-Bilder und Informationen an den Dienstleister und Probleme können unmittelbar geklärt werden. Einfach und schnell, direkt vom Schreibtisch aus. „Denkbar wäre auch eine Kombination aus AR und Videoberatung“, blickt Boos in die Zukunft. Dann würden sich zwei Technologien ergänzen: die Beratung verschmilzt mit dem virtuellen Rundgang in der Maschine.
Quelle:
Michael Sudahl ist freier Journalist.
https://www.maschinenmarkt.vogel.de/vr-anwendungen-auch-fuer-den-mittelstand-a-852176/