In der Ausstellung «Shaping the Invisible World» zeigt das Haus der elektronischen Künste technologisch unterstützte Repräsentationen der Wirklichkeit. Und wie diese den Alltag nicht einfach wiedergeben, sondern ihn auch gleich mitbestimmen.
Vor 10 Jahren öffnete das Haus der elektronischen Künste (HEK) seine Tore. Noch weiss man am Dreispitz nicht, wie der runde Geburtstag gefeiert werden soll. Auch nach der Wiedereröffnung Anfang März wird die Arbeit des HEK weiterhin durch Gesundheitsauflagen und Schutzbestimmungen tangiert. So musste die Vernissage zur aktuellen Schau «Shaping the Invisible World» online abgehalten werden.
Passend zum Jubiläumsjahr ist, dass «Shaping the Invisible World» etwas Abgerundetes an sich hat. Schliesslich greift das Kuratoren-Team, bestehend aus Boris Magrini und Christine Schranz, mit dieser internationalen Gruppenschau viele Themen auf, die zum geistigen Fundament des HEK gehören. In der Ausstellung geht es um die Vermessung der Welt mit digitalen Mitteln und wie aus harmlosen Datensätzen empfindliche Informationsströme abgeleitet werden.
Für das dystopische Denken, das «Shaping the Invisible World» prägt, ist «The Mailman’s Bag» von Esther Polak & Ivar Van Bekkum exemplarisch. Mit GPS-Tracker und Aufnahmegerät verfolgte das niederländische Duo einen Pöstler auf seiner Tour durch einen Vorort von Philadelphia. Später stellten Polak & Van Bekkum diesen Rundgang über Google Street View und Google Earth nach. Perfekt ist die so entstandene 3-D-Repräsentation beileibe nicht. Die vielen Glitches täuschen aber nicht über die Tatsache hinweg, wie einfach Menschen mittels der entsprechenden Technologie überwacht werden können.
Der Däne Jakob Kudsk Steensen beamt die Ausstellungsbesucher mittels Virtual Reality in den Südpazifik.
Trevor Paglen kehrt den Spiess um und späht die Späher gleich selber aus. Für seine Installation «circles» schoss der amerikanische Medienkünstler ein Video der britischen Überwachungszentrale GCHQ, die dank Edward Snowden eine dunkle Berühmtheit erlangt hat. Gemäss dem Whistleblower versorgt das GCHQ die amerikanischen Geheimdienste klandestin und illegal mit allerlei sensiblen Informationen.
Unangenehmen Wahrheiten begegnet man bei «Shaping the Invisible World» immer wieder. In seiner Installation «Primal Tourism» beamt der Däne Jakob Kudsk Steensen die Ausstellungsbesucher und Besucherinnen mittels Virtual Reality in den Südpazifik. Dort werden sie mit den langfristigen Folgen von Klimakrise, Kolonialvergangenheit und Umweltverschmutzung für die französisch-polynesische Ferieninsel Borabora konfrontiert.
Virtuelle Vogelwarte
Ähnlich düster geht es bei «Catch and Release» von James Bridle zu und her. Mit der Hilfe der Tour du Valat, einer französischen Forschungsstation zur Erhaltung der mediterranen Feuchtgebiete, hat der Londoner Umweltaktivist so etwas wie eine virtuelle Vogelwarte errichtet. Auf einem Bildschirm kreist er immer wieder Orte ein, wo Exemplare bestimmter Vogelspezies schon gesichtet wurden – und löscht den entsprechenden Eintrag gleich auf seinem Server als Symbol des globalen Artensterbens. In nicht zu ferner Zukunft wird Bridles Datenbank leer sein.
Mit dem Simulationsprojekt «Asunder» hinterfragen Tega Brain, Julian Oliver und Bengt Sjölén die Technikgläubigkeit der heutigen Zeit. Die australisch-deutsch-dänische Aktivistengruppe hat einen leistungsstarken Computer mit Daten über Klimavorgänge und Ökosysteme gefüttert. Im HEK breitet sie die absurden Einfälle aus, die der Rechner mittels KI-Software zur Lösung der Klimakrise erarbeitet. Ohne Menschen kommt die künstliche Intelligenz an ihre Grenzen.
Die Antworten auf die grossen Probleme der Menschheit liegen womöglich fernab der Erde, argumentiert das Bureau d’études aus Paris. Seine grossformatig aufgezogene Karte «Astropolitique déplétion des ressources terrestres et devenir cosmique du capitalisme: une cartographie» präsentiert die Rohstoffbeschaffung im Weltraum als zukunftsträchtigen Wirtschaftszweig. Gemäss Co-Kurator Boris Magrini arbeiten viele Tech-Konzerne bereits darauf hin, die Menschheit einmal über die Ausbeutung von nahe gelegenen Asteroiden mit Ressourcen zu versorgen, die auf der Erde bald knapp sein werden.
Mit dieser Erkenntnis lassen sich wohl die interplanetarischen Ambitionen von Tech-Unternehmern wie Elon Musk erklären. Science-Fiction war gestern, lautet denn auch die Kernbotschaft von «Shaping the Invisible World», die Zukunft hat schon lange begonnen. Im HEK kriegt man davon eine Vorahnung.
Die Ausstellung läuft bis zum 23. Mai in Münchenstein auf dem Freilager-Platz 9.
Quelle:
https://www.bazonline.ch/science-fiction-war-gestern-802780618865
Foto:
Digital Atmosphere: Die Zukunft hat schon lange begonnen.Foto: Studio Above&Below