Noch nutzen die wenigsten Handwerksbetriebe Augmented und Virtual Reality. Doch das könnte sich bald ändern. In verschiedenen Projekten werden derzeit Anwendungschancen von VR und AR für Betriebe getestet.
In mehreren Forschungsarbeiten wird erprobt, wie das Handwerk in Zukunft von Virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen profitieren könnte.
Dazu zählt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt Handle VR (siehe Interview unten). Es untersucht, wie die Ausbildung im Maler- und Lackiererhandwerk von einer virtuellen Lackierwerkstatt profitieren kann.
Lackieren ohne Farbe zu verbrauchen
Mit Hilfe einer VR-Brille und einer nachgebauten Lackierpistole als VR-Controller bzw. Eingabegerät können die Auszubildenden aus der Fahrzeuglackierung eines Tochterunternehmens der Daimler AG in Ludwigsfeldeim virtuellen Raum Fahrzeuge lackieren. „Wir sind überzeugt, dass dieses Training eine nützliche Ergänzung für die Ausbildung ist“, sagt Andrea Schmitz von der am Projekt beteiligten Zentralstelle für Weiterbildung im Handwerk (ZWH).
Lackierarbeiten ließen sich ohne den Verbrauch von Materialien an Objekten mit hohem Realitätsgrad üben. Mit Einstellungen in der Software könne simuliert werden, wie sich unterschiedliche Farben auf unterschiedlichen Werkstücken verhalten. Zudem lassen sich über die VR-Brille Lehrvideos oder kleine Präsentationen einbinden, in denen der Ausbildungsmeister Abläufe erklärt und Ziele für die Lehrlinge festlegt. Die im Projekt entwickelte Software soll den Betrieben frei verfügbar gemacht werden. Zudem werden sich die Bauteile für die Lackierpistole über einen 3D-Drucker selbst erstellen lassen, so dass die Technik preiswerter wird.
Arbeitsbelastung reduzieren
Handwerksgeselle 4.0 heißt ein anderes Forschungsprojekt, das vom Zentralverband Sanitär Heizung Klima (ZVSHK) initiiert wurde. Am Beispiel der Badsanierung wird erprobt, wie kognitive, ergonomische und gesundheitsförderliche Assistenz- und Unterstützungssysteme die Tätigkeiten des Handwerks vereinfachen und die körperliche Belastung senken können. Getestet werden verschiedene Datenbrillen und Exoskelette. Projektleiter Matthias Thiel vom ZVSHK sieht in der Technik große Chancen für die Betriebe. “Prozesse lassen sich mit Augmented Reality effizienter gestalten, da zum Beispiel beim Kundendienst Informationen in Echtzeit abgerufen werden können und bei der Wartung oder Reparatur eine direkte Unterstützung vom Meister oder dem Hersteller möglich ist“, sagt Thiel. Besonders sinnvoll ist AR aus seiner Sicht, wenn der Handwerker bei der Arbeit seine Hände frei hat. Deshalb biete die Datenbrille gegenüber dem Smartphone oder Tablet klare Vorteile.
Die Handwerkskammer Erfurt erforscht derweil im Projekt DigiBack nicht nur, ob Pralinen aus dem 3D-Drucker Potenzial haben, sondern auch, wie VR-Anwendungen im Rahmen der Bäcker- und Konditorausbildung genutzt werden können. Im Fokus stehen Arbeitssicherheit, Hygienevorschriften und Kundenkommunikation. In der virtuellen Bäckerei können die Auszubildenden lernen, wie sie ihre Hände nach den Hygieneschutzregeln reinigen und die Backstube sauber halten. Zudem gibt es einen virtuellen Verkaufsraum, in dem die Lehrlinge das Verpacken der Backwaren üben und typische Situationen in der Kundenberatung und dem Verkauf nachstellen.
„Den Auszubildenden die Angst nehmen“
Ausbildungsmeister Ingo Schulz und IT-System- und -Prozessberater Gregor Tallig über die Chancen von VR
Herr Schulz, warum engagieren Sie sich im Mercedes-Benz-Werk Ludwigsfelde als Projektpartner von Handle VR?

Wir waren von Anfang an begeistert unser Know-how aus der Praxis beisteuern zu können. Die bisherigen VR-Lösungen, die auch wir hier am Standort eingesetzt haben, waren nur bedingt realitätsnah. Es war mehr ein „2D-Lackieren auf dem Bildschirm“, ohne wirklichen körperlichen und motorischen Einsatz. Handle VR ist eine sehr ausgereifte Simulation und bietet viele Vorteile.
Zum Beispiel?
Dazu zählen eine exakt nachgebildete Lackierpistole inklusive Gewicht und Haptik, die zu lackierenden 3D-Bauteile in Originalgröße und die Möglichkeit, verschiedene Aufgaben als Ausbildungsmeister zu erstellen. Das System lässt sich an die jeweiligen Lernfortschritte anpassen und hilft uns so, die Auszubildenden entsprechend ihrer Fähigkeiten optimal zu fördern.
Welche Vorteile bringt dem Betrieb die Integration von VR?
VR-Lackieren ist ideal für die Ausbildung: Es ist praktisch ein Heranführen an die unterschiedlichen Techniken und Herangehensweisen des Lackierens. Es nimmt den Auszubildenden die Angst, etwas falsch zu machen, und schafft eine Selbstsicherheit, die später wichtig ist. Zudem ist ein wesentlicher Vorteil darin zu sehen, dass es Ressourcen wie Lacke, Wasser und anderes schont. Es ist ein Schritt in Richtung der Digitalisierung und gleichzeitig auch ein weiterer Schritt in Sachen Nachhaltigkeit.

Herr Tallig, wie finden die Mitarbeiter die VR-Lackierkabine?
Uns freut besonders, dass das Interesse der jungen Kollegen von Anfang an sehr hoch war und bis heute ist. Die Auszubildenden sind begeistert und das „Digitale“, der Umgang mit komplexer Technologie, steigert den Spaß und damit die Motivation bei der Ausbildung enorm. So wird die digitale Transformation, die in so vielen Bereichen immer mehr Einzug hält, auch in der Ausbildung wirklich erfahrbar.
Werden Sie VR künftig als Standard im Betrieb einsetzen?
Das System ist heute schon sehr ausgereift. Wir werden Handle VR als festen Bestandteil der Ausbildung verankern und es vor allem in den ersten beiden Lehrjahren einsetzen. Es wird aber das „echte“ Lackieren nicht vollkommen ablösen können. Wir räumen mit unseren Partnern nach und nach die kleineren Schwachstellen aus, sodass es nach Projektende auch an anderen Standorten eingesetzt werden kann.
Quelle:
Foto: Im Mercedes-Benz-Werk Ludwigsfelde werden bereits Datenbrillen in der Ausbildung eingesetzt. Fotos: Mercedes-Benz Werk Ludwigsfelde – © Mercedes-Benz Ludwigsfelde GmbH