Der Begriff Spatial Computing geht auf das Jahre 2003 zurück und steht für die Interaktion von Mensch und Maschine. Insbesondere die Technologien Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality stehen für diesen Begriff. Revolutioniert nun Spatial Computing die Industrie?
Der Idee, den physischen Raum als integralen Bestandteil von computergestützten Erlebniswelten zu betrachten, begegnen wir im Consumer-Umfeld an vielen Stellen – freilich oftmals ohne dass es uns bewusst ist. Sei es das Uber-Taxi, dessen Ankunft wir über eine App verfolgen, der Rasenmäher-Roboter, der in der Pole Position auf seinen Einsatz wartet oder die Anzeige über die Ankunft der nächsten U-Bahn: Wo immer Bewegungsabläufe optimiert werden können, ist Spatial Computing zur Stelle. So auch im weiten Feld der Navigation: Zwar geben wir mit Google Maps unseren Standpunkt preis, bekommen dafür aber den idealen Weg zu unserem Ziel aufgezeigt – allen Staus zum Trotz.
Im beruflichen Umfeld ist Spatial Computing für Lieferdienste von Waren oder Speisen von unschätzbarem Wert. Wie sonst käme der Lieferant schnellstmöglich zum bestellten Essen im Restaurant in meiner Nachbarschaft und von da aus zu meiner Lieferadresse? Spatial Computing birgt aber auch im B2B-Umfeld, etwa in der Fabrikplanung, erhebliches Potenzial. Allerdings: Ist es im Straßenverkehr noch relativ einfach, einen optimierten Weg von A nach B zu berechnen, weil es im Prinzip nur die Optionen links, rechts und geradeaus gibt, ist man in einer Fabrik mit wesentlich komplexeren Wegverläufen konfrontiert. Die räumliche Ausdehnung einer Fabrik muss entsprechend viel genauer erfasst werden und die Software deutlich mehr Optionen einbeziehen, auch Gefahrenzonen oder Rampen. Auch in der Intra- und Outbound-Logistik hat sich Spatial Computing seine Meriten verdient: Die am stärksten nachgefragten Produktgruppen werden in einem Lager so angeordnet, dass sie am schnellsten abtransportiert werden können.
Verschmelzung von digital und real
Kreative Entwickler sind derzeit dabei, Spatial Computing im Bereich der industriellen Anwendung auf die nächste Stufe zu heben. Durch die geschickte Kombination von Leading-Edge-Technologien wie Augmented Reality (AR), Industrial Internet of Things (IIoT), Machine Learning und Sensorik lassen sich Fertigungsprozesse weiter optimieren sowie deren Design und Bedienung massiv vereinfachen. Detailkenntnisse über jeden noch so kurzen Prozessschritt offenbaren neue Einsichten und öffnen Tür und Tor für effizienteres und schnelleres Arbeiten, sparen Zeit und Energie.
Datenqualität nachhaltig steigern
Mit dem Einzug von IIoT ist der Einsatz von Bearbeitungszentren in den Fabrikhallen auf Basis von MES-Konzepten optimiert worden. Im Zuge der Einführung von Manufacturing Execution System (MES, auch: prozessnahe Produktionsfeinplanung) wurde die Überwachung der einzelnen Fertigungszellen zentralisiert, mehrere Maschinen parallel beobachtet und ihre Taktung aufeinander abgestimmt. Nun gilt es, die immer anspruchsvoller werdenden Tätigkeiten der Werker genauer mit den Maschinenabläufen zu synchronisieren. Spatial Computing erlaubt es, Prozessanweisungen durch einen klaren räumlichen Bezug zu veranschaulichen und damit besser nachvollziehbar zu machen. Etwa bei der Programmierung der Industrieroboter. Bisher werden diese umständlich über 2D-Interfaces programmiert (Teach-in).
Um diese komplizierte Programmierumgebung zu verstehen, ist eine langwierige Ausbildung nötig. Spatial Computing indes senkt die Abstraktionsebene des Teach-in deutlich. Über ein Interface lassen sich Handlungsanweisungen intuitiv mit dem physischen Aktionsraum des Roboters verknüpfen. Etwa indem dem Roboter mit einer Armbewegung die Richtung vorgegeben wird oder Wegpunkte mit einem Smartphone platziert werden.
Wenn dann noch mehrere Maschinen und Roboter miteinander verkettet werden müssen, wird der Vorteil von Spatial Computing noch offensichtlicher: In einer Fabrik, in der große Mengen an Sensoren ihren Dienst verrichten, gilt es aktuell immer noch, Unmengen an Zeitreihen in Dropdown-Menüs auf dem Desktop zu inspizieren – es ist eine echte Herausforderung, den Überblick aufgrund der unterschiedlichen Datenstrukturen zu behalten. Spatial Computing kann aufzeigen, an welcher Stelle auf dem Shopfloor ein Fehler aufgetreten ist und eine AR-Anwendung dem Mitarbeiter den Weg dorthin aufzeigen. So lässt sich die Produktivität insgesamt signifikant steigern und die Frustration der einzelnen Werker aufgrund von an sich unnötigen Rückfragen deutlich senken.
Der digitale Zwilling wird klüger
Neben den Maschinen können über Kameras die Bewegungen von Materialien, Werkzeugen und Werker nachverfolgt und ausgewertet werden. Waren bisher die tatsächlichen Arbeitswege der Mitarbeiter oder von Gütern weitgehend unbekannt, kann nun der komplette Produktionsablauf einschließlich der Montagearbeiten genau dokumentiert werden. So können Initiativen entwickelt werden, die sich dieses Wissen zunutze machen. Spatial Computing entwickelt damit den digitalen Zwilling der Fabrik weiter. Künftig werden in Echtzeit nicht nur die Abläufe in der Maschine abgebildet, auch der digitale Zwilling des Werkers lässt sich kreieren: Es kann präzise erfasst werden, wo sich eine Person gerade befindet, was sie tut und welche Fertigkeiten sie besitzt. Ist etwa bekannt, dass eine Person nur 10 kg heben kann, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen, sie aber gerade versucht, dass doppelte Gewicht zu stemmen, erfasst das System automatisch den Konflikt, warnt die betreffende Person und fordert Unterstützung an. Dadurch können Arbeitgeber besser ihrer Aufsichtspflicht nachkommen.
Ein anderer, bemerkenswerter Aspekt von Spatial Computing sind seine analytischen Fähigkeiten: Über sogenannte Spatial Heat Maps erhalten Unternehmen Einblicke, an welchem Ort während des Arbeitsablauf sich die Arbeiter am häufigsten aufhalten, wo unverhofft Maschinenstillstand herrscht und welche Arbeitswege am meisten frequentiert werden.
Räumlich verbesserte auflösende Kameras und Machine Learning haben ein komplett neues Anwendungsfeld entstehen lassen. Neue Kamera-Technologien erfassen nicht nur eine 2D-Aufnahme, sondern auch Entfernungsinformationen. Die fortschrittlichste Methode dabei funktioniert nach dem Time-of-Flight-Verfahren: Es wird die Zeit gemessen, die ein Lichtstrahl von der Kamera zum Objekt und wieder zurück infolge von Reflexion braucht. Die 3D-Bilder mehrerer Kameras können miteinander verknüpft und dadurch umfassendere Echtzeit-Simulationen der Realität erzeugt werden. In diese Szenen können AR-Anwendungen projiziert werden.
Prozesse über einen längeren Zeitraum erfassen
Das Recht auf Privatsphäre ist ein großes Thema, aktuell durch die DSGVO einmal mehr ins Lampenlicht gerückt. Da bei Spatial Computing auch die Bewegungsabläufe von Personen erfasst werden, muss der Schutz von Intimität berücksichtigt werden. Hierbei ist der wesentliche Punkt, welche Daten erhoben und wie sie verarbeitet werden.
Derzeit werden neue Prozesse vorab simuliert und schließlich am Ort der Implementierung ihre Dauer per Stoppuhr gemessen. Schon lange ist es üblich, entsprechende Daten, etwa gemäß der Vorgaben des REFA Bundesverbands, zu protokollieren. Auf dieser Basis werden Stückzahlen definiert, die pro Stunde erreicht werden sollen. Die Gefahr besteht bei dieser Methode allerdings darin, dass die gemessenen Zeiten ungewollt Sondereffekte enthalten: Weiß ein Arbeiter, dass er beobachtet und seine Zeit protokolliert wird, strengt er sich vermutlich mehr an und arbeitet schneller. Dabei wird nicht in Betracht gezogen, dass er müde werden kann und je nach Tagesverfassung unterschiedliche Leistungen vollbringt. Denn es wird nur ein kurzer Ausschnitt unter Idealbedingungen abgebildet und in eine Vorgabe umgemünzt. Erfasst man hingegen mithilfe von Spatial Computing längere Etappen, zeigt sich ein wirklichkeitsgetreueres Abbild. Mit Spatial Computing lassen sich Daten viel präziser erheben und somit der Arbeitsplatz und die Leistungsvorgaben mit den Fähigkeiten des Werkers besser in Einklang bringen. Je nach Richtlinien und internen Vorgaben werden dabei nur de-personalisierte Bewegungsmuster, nicht jedoch Videoaufnahmen im Sinne von persönlichen Daten gespeichert.
Eine neue Ära in der Industrie
Mittels verketteter Kamerasysteme können komplette Produktionsstandorte aus der Ferne gesteuert werden. Interdisziplinäre Arbeitsgruppen können global auf Basis des digitalen Zwillings so kollaborieren, als säßen sie in einem Raum zusammen – sie können sich selbst sehen und im virtuellen Beobachtungsraum des anderen bewegen.
PTC investiert in diese Technologie, wohl wissend, dass sie längst noch nicht ausgereizt ist. Das Unternehmen stellt zum Beispiel die Vuforia Spatial Toolbox der Open Source Community zur Verfügung, damit diese eigene Programme entwickelt und voneinander lernt. Dabei arbeitet der Systemanbieter neben Partnern aus der Industrie mit Universitäten wie dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) eng zusammen.
Ist Spatial Computing im E-Commerce-Umfeld bereits sehr erfolgreich, sind für den effektiven Einsatz in der industriellen Fertigung noch weitere Forschung und Entwicklung notwendig. PTC intensiviert beispielsweise seine Arbeiten an der Vuforia Spatial Toolbox im regen Wissensaustausch mit anderen Protagonisten in diesem Metier.
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Nötige Arbeitsschritte werden gemeldet und Fehlermeldungen unmittelbar angezeigt. – PTC