von Miriam Weberstorfer
Warum Wissensvermittlung interaktiver gedacht werden muss und Skelette mehr Liebe verdienen
Ja, ich arbeite gerne mit Skeletten. Wenn man ihre Sprache versteht, erzählen sie nämlich spannende Geschichten. Und während das als Volksschulkind noch richtig cool war, werde ich heute schräg angeschaut, wenn ich mich zu meiner Knochenliebe oute. Warum eigentlich? Wir sind stets von Vergangenem umgeben, ob man will oder nicht. Menschen- oder Tierknochen, Gebäude oder Skulpturen aus alten Tagen. In einer Stadt wie Wien ist es nicht selten, dass man sogar auf dem Weg zur Arbeit, bei einem Ausflug in die Oper oder beim Besuch im Kaffeehaus „über Leichen geht“. An fast jeder Ecke und hinter fast jedem Stein schlummert Geschichte.
Als Bioarchäologin stand ich eines Tages mit einem Schatz voller Wissen über die Vergangenheit da. Doch war mir das Wissen allein nicht genug: Ich wollte diese Vergangenheit auch hautnah erleben und machte mich auf in die Wiener Innenstadt. Ich wollte meine Augen öffnen und entdecken. Entdecken, was denn so vielen längst verborgen scheint. Hinweise erkennen und Geschichten auf die Spur kommen. Wo haben sie sich wirklich zugetragen? Wo sind sie heute noch sichtbar? Was erzählen sie uns?
Die Vergangenheit ist jetzt
Die eine Gasse entlang, durch einen dunklen Durchgang hindurch, vorbei an den Pawlatschen, und voilà – plötzlich stand ich in einem versteckten Garten eines Innenhofs fernab vom Straßenlärm. Die dicken und alten Mauern der umliegenden Häuser schirmten jedes Geräusch ab, die Hektik der Stadt war wie verflogen. Ich atmete ein und aus und freute mich, dem Mysterium Wien einen kleinen Schritt näher gekommen zu sein. Für einen Moment fühlte ich mich fast wie Indiana Jones, der abenteuerliche Held meiner Kindheit. Aber dann ging’s wieder hinaus ins Getümmel der unwissenden Passanten und weiter bis zur nächsten Biegung, wo ich den Trubel wieder verließ und erneut einen für mich neuen und für Wien alten Weg entdeckte, den ich noch nie zuvor begangen hatte. Mir wurde klar: Die Vergangenheit ist jetzt. Sie umgibt uns, und es zahlt sich aus, sie zu erkunden.
Kulturvermittlung 4.0
Meine langjährige Arbeit bei einer Eventagentur und beim Naturhistorischen Museum Wien hat mir gezeigt, Kulturvermittlung muss interaktiver werden: Rätseljagden durch das alte Wien, Geheimnisse lüften, auf den Spuren der Vergangenheit wandern – das ist die Art des Geschichte-Erlebens, die ich in Wien nirgendwo fand. Das Projekt ArchäoNOW wurde geboren, und jedes Jahr nehmen tausende Menschen an unseren Rätseltouren teil. Warum? „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle“, sagte Albert Einstein einst und behält damit recht. Mit Schnitzeljagden durch die Stadt wollen wir einen pädagogischen Mehrwert schaffen.
Augmented Reality: Im alten Wien auf dem neuesten Stand der Technik
In die Zukunft und somit auf neue Technologien zu blicken ist in der Kulturvermittlung entscheidend. Gemeinsam mit einem Augmented- und Virtual-Reality-Developer von VARS entwickelten wir die erste Augmented-Reality-Tour Wiens. Wer nun meint, Augmented Reality sei seit dem Spiel „Pokémon Go“ bereits ein alter Hut, der irrt gewaltig. Mithilfe von Smartphones können längst verloren gegangene Gebäude wiederauferstehen und nichtzugängliche Objekte wie Reliquien aus dem Stephansdom direkt in die eigenen Hände wandern. Die Maria-Magdalena-Kapelle ist zwar 1781 abgebrannt, jedoch haben wir sie virtuell wieder aufgebaut und in Originalgröße an ihrem damaligen Standort platziert. Unser Modell steht dabei fast zentimetergenau an seiner ursprünglichen Stelle, während sich darunter die Virgilkapelle eröffnet. Einmal durch den Boden hindurchsehen? Kein Problem, wir legen noch eins drauf und zeigen sogar, wie man einen Schädel anthropologisch untersuchen kann – alles durch ein virtuelles Modell, versteht sich. So werden Originale erlebbar, können dabei aber nicht zerstört oder beschädigt werden.
Zeitreisen
Wie sich Zeitreisen anfühlen würde, können wir nur erahnen. Durch die neuen Technologien, die uns zur Verfügung stehen, können wir jedoch eine Vorstellung davon bekommen, wie Wien oder andere Orte einst zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit ausgesehen haben mögen. Wir nutzen die erweiterte Realität, um einem breiten Publikum Geschichtliches besser zugänglich zu machen und dabei Menschen für Geschichte zu begeistern.
Manchmal muss ich selbst an den Moment zurückdenken, als mir zum ersten Mal das Augmented-Reality-Modell der Maria-Magdalena-Kapelle gezeigt wurde. Wie von einem Moment auf den anderen war ich wieder von dieser kindlichen Neugierde und Begeisterung befangen. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah, und war mir dennoch bewusst, dass das noch längst nicht alles ist. (Miriam Weberstorfer, 5.9.2019)
Quelle:
Foto:Neue Technologien lassen einen per Smartphone Archäologie auf neue Weise erleben. Die Maria-Magdalena-Kapelle und der Heiltumstuhl auf ihren alten Plätzen. Miriam Weberstorfer
https://www.derstandard.at/story/2000108189406/das-virtuelle-wien-archaeologie-mit-ar-erlebbar-machen