Nach knapp einem Jahr im Corona-Modus haben wir uns langsam ans Home-Office gewöhnt. Die Möglichkeiten sind jedoch noch lange nicht ausgeschöpft: Dank Virtual Reality könnten Büroräumlichkeiten und Sitzungszimmer zu Hause simuliert werden. Was für Vorteile bringt das?
Das Büro in der St.-Anna-Gasse in Zürich ist fast leer. Einzig eine schemenhafte, durchsichtige Gestalt ist im Raum anzutreffen. Sie winkt und schaltet den Fernseher ein, der an der Wand hängt. In einer Ecke steht ein Roboter, der freundlich seine Hilfe anbietet. Kurz darauf verschwindet das Büro, und wir stehen in einem grossen Saal. Der Blick aus dem Fenster bietet eine schöne Aussicht auf das nächtliche San Francisco. Die Gestalt tritt ans Rednerpult und beginnt zu sprechen. Wir drehen uns um und verfolgen einen Moment lang auf dem grossen Bildschirm die Präsentation. Einen Augenblick später stehen wir mitten in einer Bergwelt, neben uns ein grosses Brett. Eifrig beginnen wir, Post-its zu beschriften, und hängen sie an der Tafel vor uns auf – bevor wir wenig später wieder zurück in der St.-Anna-Gasse sind.
Was sich nach Science-Fiction anhört, geht in der Virtual Reality (VR) ohne Probleme. Gerade im Corona-Alltag, der von Home-Office sowie Reise- und Kontaktbeschränkungen geprägt ist, hört sich das Szenario verlockend an. «In den letzten zwölf Monaten gab es im Bereich VR einen grossen Sprung», sagt Marco Tempest. Er ist VR-Experte bei Accenture und hat den oben beschriebenen virtuellen Rundgang durch die Büroräumlichkeiten des Beratungsunternehmens in San Francisco und dessen Extended-Reality-Studio in Zürich geführt. Immer mehr Unternehmen würden sich für die Möglichkeit interessieren, Treffen oder Events im virtuellen Raum abzuhalten, sagt Tempest.
In der Corona-Krise hat sich das Home-Office für gewisse Berufsgruppen als Alternative zum Büro etabliert. Mit Messaging-Diensten wie Slack oder Telefonkonferenz-Software wie Zoom lässt sich ein grosser Teil der Arbeit ohne Probleme von zu Hause aus erledigen. Doch obwohl wir uns mittlerweile an das Arbeiten in den eigenen vier Wänden gewöhnt haben, wächst die Einsicht, dass das Büro-Gefühl nicht eins zu eins ins Home-Office übertragen werden kann. Der wichtige informelle Austausch zwischen den Kolleginnen und Kollegen, zum Beispiel nach einer Sitzung in der Kaffeeküche, fällt weg. Gerade diese Informalität ist mit den oben genannten Diensten schwierig zu simulieren.
VR für grosse Gruppen besser geeignet
Den Vorteil von Treffen im virtuellen Raum sieht Marc Pollefeys, Professor und Leiter des Labors für Computer Vision and Geometry an der ETH Zürich, denn auch vor allem darin, dass sie eine reichhaltige Kommunikation erlauben. «Zoom funktioniert gut für Eins-zu-eins-Meetings, für grosse Gruppen ist VR jedoch besser geeignet», sagt er im Gespräch mit der NZZ. Ein Sprecher lasse sich im virtuellen Raum verorten. Je nachdem tauscht er sich mit seinem direkten Nachbarn aus oder steht am Rednerpult und spricht zu allen Personen. Weiter könne die nonverbale Kommunikation, die Mimik sowie die Gesten der Sprecher, besser eingefangen werden.
Im Alltag ist VR für einen Grossteil der im Home-Office arbeitenden Bevölkerung gegenwärtig kein Thema. Die Anwendungen wären jedoch bereits da: Mit Spatial vom gleichnamigen amerikanischen Startup oder AltspaceVR von Microsoft kann man sich im virtuellen Raum treffen und gemeinsam arbeiten oder Sitzungen abhalten. Je nach Anbieter lassen sich Produktivitätstools, zum Beispiel Google Docs oder Slack, in die virtuelle Realität integrieren. Teilweise ist die Teilnahme an virtuellen Treffen auch ohne VR-Brille mit einem gewöhnlichen Computer oder einem iPad möglich.
Das Beratungsunternehmen Accenture bietet mit seiner Immersive Collaboration Platform eine ähnliche Plattform an. Entwickelt wurde sie von Marco Tempest und seinem Team in Zürich. «VR kann den Menschen das Gefühl geben, wieder zurück im Büro zu sein», sagt der Lead Consultant Extended Reality von Accenture im Gespräch. Realisiert wird dieses Gefühl, indem die Arbeitsumgebung möglichst genau virtuell nachgebaut wird. Accenture setzt dafür eine spezielle 3-D-Kamera ein, die auch im Immobilienbereich für das Scannen von Wohnungen verwendet wird, und baut anhand dieser Daten das Büro des Kunden nach. Etwa zwei Wochen benötige man für diesen Prozess. So lassen sich verschiedene zusammenhängende Räume, mehrere Stockwerke, eine abgelegene Grünfläche oder eine Kaffeeküche in den Bergen virtuell nachbilden – inklusive der vertrauten Aussicht.
Gibt es bald für jeden neuen Mitarbeiter eine VR-Brille?
Auch die Technologie seitens der einzelnen Nutzer hat Fortschritte gemacht: Die VR-Brillen sind noch einmal leichter und leistungsfähiger geworden. Tempest könnte sich gut vorstellen, dass Firmen neuen Mitarbeitern neben einem Computer und einer Trinkflasche bald auch eine VR-Brille zur Verfügung stellen und das Onboarding in Teilen virtuell stattfinden wird.
Ein solches Szenario könnte ungefähr folgendermassen aussehen: Nach einem ersten Gespräch mit dem Teamleiter über Video setzt der neue Mitarbeiter die VR-Brille auf und gelangt in einen Raum mit Stehtischen, an dem bereits andere Neuankömmlinge stehen und sich kennenlernen. Die Gespräche sind dabei auf die einzelnen Tische beschränkt. Vielleicht macht der CEO die Runde von Tisch zu Tisch, um sich vorzustellen, bevor er ans Rednerpult geht und für alle hörbar die neuen Mitarbeiter begrüsst.
Der Vorteil eines solchen virtuellen Events liegt laut Tempest darin, dass man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer besser lenken könne: «Die Leute sind weniger abgelenkt und können Informationen besser aufnehmen.» Damit dieser Effekt jedoch eintrete, müsse man diese Momente bewusst einstreuen, als Auflockerung zwischendrin.
Solche Szenarien sind in den meisten Unternehmen jedoch noch Zukunftsmusik. Marc Pollefeys, der neben seiner Tätigkeit an der ETH das Zürcher Labor für Mixed Reality und AI (künstliche Intelligenz) von Microsoft leitet, schätzt, dass die Technologie sich nach wie vor in einer frühen Phase befindet. «Es wird noch viel experimentiert», sagt er. «Doch das Potenzial ist da, und es gibt derzeit ein grosses Interesse daran, miteinander in einem virtuellen Raum zu kommunizieren.»
Bei der Darstellung von Personen ist noch Luft nach oben
Einen der Punkte, in denen die Technologie im Bereich virtuelle Treffen in Zukunft noch weitere Fortschritte machen wird, sieht Pollefeys in der Darstellung der einzelnen Personen: «Wie präsentiere ich Menschen am besten virtuell, damit auch über die Distanz möglichst bedeutsame Interaktionen und Kommunikation möglich sind? Hier liegt noch viel Potenzial brach.»
Dabei müsse es kein Nachteil sein, dass die Avatare der einzelnen Personen in der virtuellen Realität teilweise etwas schemenhaft daherkämen. Im Gegenteil: Sehr realistische Darstellungen könnten sogar für mehr Irritation beim Gegenüber sorgen, da uns jede noch so kleine Abweichung ins Auge springen würde. Bei Cartoon-artigen Figuren können wir das besser abstrahieren. Der Effekt ist in der Wissenschaft als «uncanny valley» bekannt.
Während die Technologie im Home-Office noch in der Experimentierphase steckt, sieht der ETH-Experte in anderen Bereichen bereits heute effektive Anwendungsgebiete. Zum Beispiel bei der Montage oder Reparatur von Industrieanlagen, bei der Ingenieure dank Mixed Reality, einer Kombination aus VR und AR, Zeit sparen und Reisen vermeiden können. Mithilfe einer Brille, die einem Ingenieur ein Abbild einer Maschine in einer Fabrik zeige, könne ein Arbeiter vor Ort bei der Reparatur mit präzisen Informationen aus der Ferne unterstützt werden. Das spare sowohl Zeit als auch Reisekosten.
Quelle:
Foto: Die VR-Brille aufsetzen und aus dem Home-Office Kolleginnen und Kollegen im virtuellen Büro treffen? Die Technologie wäre bereits verfügbar, im Alltag ist sie jedoch noch nicht angekommen.
Imago
https://www.nzz.ch/technologie/home-office-mit-der-vr-brille-ins-buero-ld.1589999