In kurzer Zeit haben sich Augmented und Virtual Reality in vielen Branchen von einer Spielerei zur innovationstreibenden Technik entwickelt. Ein Markt, der großes Potenzial für den Fachhandel bietet.
Augmented und Virtual Reality sind längst keine Zukunftsvision mehr. Die Zahl der erfolgreichen Anwendungsbeispiele steigt stetig, das Interesse am Markt ist groß. »Wir stoßen auf ganz viele offene Ohren. So eine Nachfrage wie beim Thema Augmented Reality haben wir noch bei keiner Applikation erlebt«, bringt es Thomas Winzer, Vorstand des IT-Systemhauses Inosoft, im Gespräch mit CRN auf den Punkt. Auch viele Hersteller von Reality-Brillen bestätigen, dass immer mehr Branchen ihr Interesse an der Technik zeigen: von Industrie, Logistik oder Einzelhandel über Medical oder Automotive bis zu Kunst, Kultur und Tourismus.
Im Bereich von Augmented Reality lassen sich verschiedene technische und finanzielle Eskalationsstufen wählen, vom normalen Smartphone über die AR-Datenbrillen bis zur Microsoft Hololens, die im Prinzip ein vollständiger Windows-10-PC ist, den man auf dem Kopf tragen und per Sprache und Gesten steuern kann, wie Lisa Wieland, Produktmanagerin bei Bechtle, erläutert. Doch für manche Anwendungen kann sich schon das Smartphone als ausreichend erweisen und damit einen einfacheren Einstieg in die neue Technik ermöglichen. Die Vorteile von AR und VR liegen auf der Hand. Sie ermöglichen eine anschaulichere Visualisierung von Objekten, die Verbindung der realen Umgebung mit digitalen Informationen oder eine verständlichere Darstellung von Prozessen. Das führt zu effektiverem Arbeiten und Kosteneinsparungen.
Für Systemhäuser ist dieses Thema bereits heute ein interessantes Geschäftsmodell, wenngleich der Einstieg eines gewissen Vorlaufes bedarf, um die technologischen Skills zu erlangen. Und es bedarf auch einer gewissen Hartnäckigkeit und Lernbereitschaft, um sich in die Software-Umgebung einzuarbeiten, wie Winzer bestätigt. Hilfe können dabei die Partnerprogramme der Hersteller bieten, wie beispielsweise das Mixed-Reality-Partner-Programm von Microsoft. Dort entstehen Netzwerke, auf die Fachhändler zurückgreifen können. Zudem gibt es praxisbezogene Schulungen, um die nötige Expertise zu erlangen. Der Weg zur AR- und VR-Kompetenz ist natürlich nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen. Bei Inosoft hat man sich seit gut dreieinhalb Jahren mit dem Themenbereich AR und VR auseinandersetzt und ist nach ersten Erfahrungen mit Beta-Kunden Anfang des Jahres auf den Markt gegangen.
Maschinenbau und Logistik
Eine Datenbrille, die Hörbehinderte in der Logistik visuell mit relevanten Informationen versorgt – dank einer Kooperation mit der TU München ist das bei der Firma Schmaus bereits Realität. Seit Ende letzten Jahres ist das neue Kommunikationssystem bereits im Einsatz und die »hörbehinderten Mitarbeiter sind mit Feuer und Flamme dabei, weil sie jetzt einfach Teil der ganzen Mannschaft sind«, freut sich Matthias vom Stein, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUM. Mit der Datenbrille werden die für den Arbeitsprozess relevanten Informationen ins Gesichtsfeld eingeblendet und so sind die Logistikmitarbeiter nicht mehr auf sprachliche Anweisungen, Ausdrucke oder Displays angewiesen. Beim Kommissionieren, d.h. der Warenverschiebung von A nach B, haben die Mitarbeiter so die Hände frei und werden visuell ans Ziel geführt. Diese Technologie ist unter dem Begriff Pick-by-Vision als Warenzeichen eingetragen.
Dadurch, dass das System sowohl von hörbehinderten und hörenden Mitarbeitern verwendet wird, bauen sich Kommunikationshürden von alleine ab. Dazu führten die Wissenschaftler viele Befragungen durch, um die Bedürfnisse und Anregungen der Angestellten in die Entwicklung einfließen zu lassen. So stellte sich etwa heraus, dass es besser verständlich ist, Informationen durch Symbole zu verdeutlichen als mithilfe von Text. Auch müssen die Brillengestelle individuell an jede Benutzerin und jeden Benutzer angepasst werden, damit diese sich nicht durch die Brille gestört fühlen. »Es gibt auch einige Funktionen, die wir zusätzlich implementiert haben. So ist es möglich, vorformulierte Kurznachrichten mit anderen auszutauschen«, erklärt vom Stein,. Damit wurde eine Kommunikationsplattform geschaffen, die ohne gesprochene Sprache funktioniert.
Das entwickelte System umfasst die Datenbrille mit der darauf installierten Kommissionier-App, einen Handscanner, mit dem die Barcodes der Waren abgelesen werden, und eine Lagerverwaltungssoftware. »Wir haben eine offene Schnittstelle zu der Kommissionier-App auf Android-Basis definiert«, erklärt vom Stein. Damit kann das System auch von anderen Firmen oder Institutionen genutzt werden. Ein weiterer Vorteil: Die Software ist auf zukünftige Datenbrillen anwendbar, wenn diese ein Android-Betriebssystem besitzen.
Für das Maschinenbau-Unternehmen Wafios hat das Systemhaus Inosoft beispielsweise eine AR-Anwendung entwickelt, die einem Arbeiter den Wechsel von Werkzeugen erläutert und Hilfestellungen gibt. Eine weitere industrielle Anwendung ist der »digitale Zwilling«, den Inosoft in Zusammenarbeit mit VDE entwickelt hat. Dabei geht es um die finale Abnahme eines realen Schaltschranks. Während des gesamten Entwicklungsprozesses entsteht auch ein digitales Modell – ein sogenannter digitaler Zwilling. Der Prüfer kann nun unter Einsatz einer Augmented-Reality-Datenbrille das reale Produkt mit dem digitalen Abbild vergleichen und erkennt unmittelbare Abweichungen, zum einen in der Installation von Komponenten, aber auch Abweichungen aus Normprüfungen gegenüber Normanforderungen. Die Produktionskontrolle wird damit vereinfacht und beschleunigt, die Kosten sinken.
Tourismus-Attraktion und Geschichtsdidaktik
Virtuelle Reisen in die Vergangenheit oder spannende Informationen zu Kunstwerken und Ausgrabungen – VR und AR sorgen für ganz neue Nutzer-Erfahrungen in Museen, der Oper, im Stadion oder der Boxengasse. So ist beispielsweise die Moverio BT-200 von Epson, ein Smart Glass mit halbtransparenten und binokularen Gläsern, das sich für AR-Anwendungen eignet, schon fester Bestandteil von spannenden Touristenattraktionen. Aber auch VR-Brillen wie die Oculus Rift werden in Simulationen in Museen eingesetzt.
Auf der größten archäologischen Ausgrabungsstelle in Norditalien können Besucher mithilfe der Moverio und den eigens entwickelten AR-Inhalten die römische Stadt Brixia (heute Brescia) quasi auferstehen lassen. Sie wurde von den Entwicklern des Unternehmens Artglass, virtuell nachgebildet, so wie sie zu ihrer Blütezeit vor fast 2000 Jahren aussah. In der Oper La Traviata in San Sebastian in Spanien erhielt jeder Besucher die spanischen Untertitel des italienischsprachigen Librettos der Oper in das Sichtfeld der Moverio eingeblendet, ohne den Blick verändern zu müssen und dadurch eventuell das Geschehen auf der Bühne zu verpassen.
Bei den Führungen in der Boxengasse des Formel-1-Teams Mercedes AMG Petronas können die Besucher hinter dem Rennwagen Platz nehmen und erhalten über die Moverio einen Einblick in den Rennbetrieb und die Arbeit der Mechaniker und Ingenieure. So werden über grafische Einblendungen bestimmte Bereiche der Box erklärt, Aufgaben dargestellt oder Informationen zu Personen eingeblendet. Darüber hinaus erfährt der Besucher Wissenswertes zur Geschichte des Teams, zu den Rennwagen und den Fahrern.
Das Museum Timeride nimmt seine Besucher mit auf eine Reise durch das Köln der Kaiserzeit. 32 Fahrgäste nehmen in der historischen Straßenbahn Platz, die VR-Brille wird sie auf eine 2,3 Kilometer lange virtuelle Reise vor mehr als 100 Jahre in die Vergangenheit der Stadt Köln mitnehmen. Vorbei geht es an 600 Gebäuden der Kaiserzeit, ein Milchmädchen stellt Kannen vor Haustüren ab, der Brikettmann liefert Kohle, man hört Bürger erregt über die ersten Benzin-Automobile diskutieren, die den Elektrokutschen zunehmend den Rang ablaufen. Zusammen mit dem Kölner IT-Dienstleister PCD-Systems hat Timeride einen langen Weg von der Investorensuche, über die Content-Produktion bis zur Konzeption der aufwendigen Hardware-Struktur hinter sich. Dafür bietet das Museum jetzt ein einzigartiges VR-Erlebnis und der Channel ist um interessantes Projekt bereichert worden. Weitere Infos in Ihr Systemhaus 2/2018.
VR für die Gebäudesimulation
Was zu den Kernkompetenzen eines Architekten zählt, kann den Normalbürger schnell überfordern: sich die Ausmaße oder gestalterischen Lösungen einer Immobilie visuell vorzustellen. Das beginnt bei der Frage der Wandfliesen im Badezimmer und endet bei der Gesamtkonzeption eines Gebäudekomplexes. Hier kann der Einsatz von Virtual Reality einen hohen Mehrwert bieten, weil sich unästhetische oder fehlerhafte Konstruktionen bereits vor dem Bau erkennen lassen. Durch die virtuelle Darstellung kann der Bauherr ein Gefühl dafür entwickeln, wie das Gebäude wirkt und ob seine Vorstellungen optimal umgesetzt werden.
Dennoch ist Virtual Reality in der Baubranche derzeit noch ein Randphänomen, das nach Ansicht von Innovationstreibern zu wenig Beachtung findet. Dabei liegen im Vergleich zu anderen Branchen die Daten über Gebäude und die installierte Gebäudetechnik sehr oft bereits als CAD-Modelle vor. Doch diese Daten werden nur sehr selten zur Visualisierung genutzt, weil die Kommunikation zwischen den einzelnen Gewerken oft nicht ausreichend vorangetrieben wird und Schnittstellen fehlen.
Genau an diesem Punkt setzt das Allgäuer Startup Element an, das Anfang des Jahres aus dem Zusammenschluss von zwei Handwerksbetrieben entstanden ist. Das Unternehmen entwickelt individuelle technische Lösungen in den Bereichen Gebäudeautomation, Sicherheitstechnik und erneuerbare Energien. Dazu setzt Element auf intelligente Steuerungssysteme, die flexibel an die Anforderungen der Nutzer angepasst werden. Vor allem jedoch treibt das Unternehmen die Kommunikation mit allem am Bau beteiligten Gewerken voran und speist deren Datensätze in eine gemeinsame Softwareplattform ein. So lasse sich ein Bauprojekt erst umfassend und schnell in die virtuelle Welt übertragen, erläutert Gründer Johannes Bär im Gespräch mit CRN. »Für uns ist es entscheidend, dass sich die unterschiedlichen Daten einfach, effizient und sicher bündeln lassen. Dadurch wird die VR-fähige Visualisierung erst wirklich vollständig und kann schnell erstellt werden.«
Element verwendet die Virtual Reality-Brille Oculus Rift, deren OLED-Display mit 2.160 x 1.200 Pixeln auflöst und über ein großes Sichtfeld verfügt. Die virtuellen Inhalte generiert Element aus dem bestehenden 3D-Datensatz der Architekten oder erstellt sie alternativ aus einem 2D-Grundriss. Dazu hat sich die Kombination aus einem CAD-Programm aus dem Bereich der Elektrotechnik (DDS-CAD) und Google Sketch Up bewährt. So kann der Kunde eine VR-fähige Visualisierung erhalten. Es gibt jedoch noch einen weiteren bautechnischen Vorteil, da der 3D-Datensatz auch zur Kollisionsprüfung mit anderen Gewerken nach dem BIM Standard (Building Information Modeling) genutzt werden kann.
Der Kunde kann sein Bauvorhaben somit schon im Vorfeld über die Brille emotional erleben. Er bekommt ein Gefühl für Proportionen und kann sich unterschiedliche Versionen des Gebäudes zeigen lassen – gleich ob es um die Ausgestaltung der Fassade, die Positionierung der Sicherheitskameras oder die Inneneinrichtung geht. Ja selbst verschiedene Einrichtungsgegenstände, Fliesen oder Dekorationen können so vorab visualisiert werden. Einen besonderen Benefit sieht Bär in der gewerkeübergreifenden Zusammenarbeit der Unternehmen. »Der Wintergartenbauer zeichnet seinen Wintergarten, wir die Beleuchtung dazu und der Kunde kann sich das gesamt Paket bei uns im VR-Raum ansehen. Das Feedback der Kunden ist sehr positiv und für uns ist diese Visualisierung schon kaum mehr wegzudenken.«
Quelle:
https://www.crn.de/software-services/artikel-117255.html