Mithilfe digitaler Welten wollen Unternehmen und Wissenschaftler Menschen beibringen, mehr füreinander zu fühlen. Straftätern wird damit bereits die Resozialisierung vereinfacht.
Was geht in einer Frau vor, wenn ein Mann sie misshandelt und sie sich nicht dagegen wehren kann? Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, die Angst sollten Gewalttäter im Rahmen des Projekts „VRespect.Me“ erfahren, das das spanische Start-up Virtual Bodyworks entwickelt hatte – mithilfe von Virtual-Reality-Brillen.
184 Männer, wegen Misshandlung verurteilt, setzten sich die Geräte vors Gesicht, um die Perspektive einer misshandelten Frau einzunehmen. Die Intervention verbessere „die Bausteine der Empathie“, indem sie die Täter lehre, die Emotionen ihrer Opfer zu erkennen, erklärte das Unternehmen. Die Hoffnung des Projekts, das die Europäische Union gefördert hat: Die Konfrontation mit der Gewalt könnte künftige Gewalttaten verhindern.
Virtual Reality (VR) erschafft künstliche Welten – aber sie löst reale Gefühle aus. Diese Erkenntnis machen sich Wissenschaftler, Unternehmer und Künstler zunutze, die mithilfe der Technologie die Distanz zwischen Menschen verringern wollen.
Spalten, teils Gräben gibt es in der Gesellschaft viele. Manche sind gewaltig: Rassismus, Geschlechterdiskriminierung, Antisemitismus – die Liste ist lang. Andere sind kleiner, weniger präsent und trotzdem relevant: Konflikte im alltäglichen Aufeinandertreffen, privat wie beruflich. Diese – da sind sich Forscher sicher – entstehen unter anderem durch Unverständnis über die Lebenswirklichkeit der anderen und damit auch durch mangelnde Empathie.
Genau da könnten virtuelle Welten Abhilfe schaffen – indem sie Menschen in die Position anderer versetzen und so beibringen, stärker füreinander zu fühlen. Was seit Jahren bereits für das Training von physischen Abläufen etwa im Cockpit oder in Fabriken eingesetzt wird, soll nun zunehmend auch die Psyche schulen. Die technische Entwicklung begünstigt das: Der VR-Markt ist zwar noch klein, dank immer günstigerer und besserer Technik wächst er jedoch deutlich.
Manager üben das Kündigungsgespräch
Der Einsatz von „VRespect.Me“ habe die Rückfallquote unter den Straftätern um 3,8 Prozentpunkte auf 2,2 Prozent gesenkt, berichtet Virtual Bodyworks unter Berufung auf erste Ergebnisse. Daraufhin habe die katalanische Regionalregierung das System für ein Gefängnis in Tarragona gekauft. Die Ergebnisse seien so vielversprechend gewesen, dass neue Simulationen entwickelt werden sollen, um die Empathie der Gesellschaft für die Opfer von Gewalt zu erhöhen.
Auch andere Unternehmen sehen in Psyche-Schulungen ein Geschäftsmodell. So bietet etwa das US-Unternehmen StreetSmartsVR eine Plattform für Strafverfolgungsbehörden an, auf der Polizisten den Umgang mit Bürgern trainieren können. Ebenfalls in den USA hat im vergangenen Jahr die junge Firma Talespin öffentliche Aufmerksamkeit erregt, weil sie eine Simulation für die Entlassung von Mitarbeitern anbietet. Ziel ist dabei, den virtuellen Angestellten Barry, der etwa 60 Jahre alt ist, im Trennungsgespräch weder traurig noch wütend zu machen.
Diese Projekte beruhen auf der Erfahrung, dass die Emotionen, die durch Virtual Reality ausgelöst werden, echt sind.
Beobachten ließ sich das etwa auf einer Technikmesse: Ein Mann steht auf einem viereckigen Podest, davor eine schmale Holzplanke. Ängstlich schaut er nach unten, wagt nicht, sie zu betreten. Er kämpft sichtlich mit sich, während die Umstehenden ihn dabei teils mitleidig, teils spöttisch beobachten: Die Konstruktion ist keine zehn Zentimeter hoch und liegt auf dem Fußboden.
Was der Mann sieht, ist allerdings kein schnödes Stück Holz. Durch die VR-Brille vor seinem Gesicht ist das Podest ein Aufzug, der ihn auf die Spitze eines Hochhauses gebracht hat, und als die Tür aufgeht, ist nur die schmale Planke davor – links und rechts geht es hundert Meter in die Tiefe. Der Mann weiß genau, dass es sich um eine Simulation handelt. Doch wer Angst vor dem Fallen hat, kann sich in so einer Situation lange einreden, dass das, was er sieht, nicht real ist. Die Angst sitzt tiefer.
Dass derartige Emotionen echt sind, zeigen auch erste Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts der Universität Siegen: Die Wissenschaftler haben eine Sensormaske entwickelt, die unter einer VR-Brille die Emotionen des Trägers erkennen kann. Dazu misst sie Werte wie den Puls, die Augenbewegungen und den Hautleitwiderstand.
Ziel des Projekts war es, das Lernen in virtuellen Welten zu verbessern, erklärt Projektkoordinator Henrik Freude. Sollte das System beispielsweise in einer Schulung für den Umgang mit Kunden Langeweile erkennen, könnte es mehr Besucher in das virtuelle Geschäft schicken, um so den Druck auf den Lernenden zu erhöhen. Die Auswertung zeigt, dass das Hervorrufen von Freude messbar gut funktioniert.
Einer der Gründe, warum virtuelle Welten echte Gefühle auslösen, ist die sogenannte „suspension of disbelief“, also die „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“. Dieses Phänomen ist schon vor langer Zeit beschrieben worden und gilt bei allen fiktiven Inhalten, etwa Büchern und Filmen. Kurzzeitig akzeptiert der Leser, Betrachter oder Spieler die ihm präsentierte Geschichte, ohne sie ständig zu hinterfragen.
Eine Maschine für den Körpertausch
Doch inwieweit können solche Erfahrungen auch Empathie fördern? Das will das BeAnotherLab ergründen, ein 2012 gegründetes Kollektiv aus Künstlern und Wissenschaftlern. Im Projekt „The Machine to Be Another“ versetzt die Gruppe Menschen kurzzeitig in den Körper anderer: Beide Teilnehmer tragen eine VR-Brille mit Kamera. Wenn sie an sich hinunterschauen, sehen sie ein Bild vom Körper des anderen.
Was den Effekt verstärkt: Beide Personen bewegen sich dank Anleitung im Gleichklang. Die Arme heben und senken sich etwa gleichzeitig – und doch ist es nicht der eigene Körper, den man sieht. So schauen je nach Projekt Männer an ihrem Körper hinunter auf Brüste, Frauen auf einen behaarten Oberköper.
Das BeAnotherLab hat bereits in 25 Ländern seine Maschine eingesetzt. Das Kollektiv möchte neue Perspektiven aufzeigen, die möglicherweise zu Verhaltensänderungen führen. In einem Projekt in diesem Jahr werden sie Teilnehmer „hyperscannen“, indem sie beide Gehirne gleichzeitig scannen, während sie interagieren, erzählt ein Mitglied des Kollektivs.
Die Macher wollen dabei genau ergründen, was mit Menschen passiert, während sie gefühlt im Körper eines anderen stecken. Für ihre Projekte kooperieren sie mit Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen, Künstlern, lokalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen und stellen ihre Software als Open Source für nicht kommerzielle Verwendung frei zur Verfügung.
Jonathan Harth, Soziologe an der Universität Witten/Herdecke, hat dieses Experiment gemeinsam mit Studierenden und der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund Ende Januar nachgebaut. Er war schon immer interessiert an der „Machine to Be Another“ und möchte nun herausfinden, wie nachhaltig die Erfahrungen sind, die die Menschen damit machen. Es geht also darum, was am Hype um Virtual Reality als sogenannte „Empathie-Maschine“ wirklich dran ist – und wie nachhaltig dieses Gefühl ist.
Eine Teilnehmerin seines Projekts zeigte sich sichtlich beeindruckt von ihrer Erfahrung. Sie habe die VR-Brille aufgesetzt und sofort im Körper ihrer Partnerin gesteckt, erzählt sie in einem Video. Sie habe nicht realisiert, dass sie gerade nicht auf ihre Hände und Beine schaue, sondern auf die ihrer Partnerin. Und als sie diese später wieder real wiedergesehen habe, habe sie eine ganz tiefe Verbundenheit gespürt.
Noch stehe er bei seinen Untersuchungen am Anfang, erzählt Soziologe Harth im Gespräch mit dem Handelsblatt. Sein Eindruck bisher: „Wir wurden an einzelnen Stellen enttäuscht, an anderen überrascht und haben neue Fragestellungen mitgenommen.“ 30 Personen haben an dem Experiment in Dortmund teilgenommen, immer zwei pro Versuch. Einige kannten sich bereits vorher, andere nicht.
Auch wenn die Auswertung noch nicht abgeschlossen ist, zeigen sich bereits erste Ergebnisse. So habe das Forscherteam vor allem bei Paaren unter den Teilnehmern gesehen, welche Wirkung die virtuelle Erfahrung machen kann, sagt Harth. „Ein großer, muskulöser Mann hat sich aus der Perspektive seiner schmächtigen Partnerin gesehen und hinterher gesagt: ‚Aha, so ist das also, wenn du mit der Wand sprichst‘“, erzählt er.
Abstumpfung gegenüber der Realität?
Auch andere Studien hätten die „Machine to Be Another“ genutzt, erklärt der Wissenschaftler. Doch noch keine habe sich explizit mit Empathie beschäftigt. Noch immer sei die VR-Technologie in der Entwicklungsphase und eine Nische im Markt wie auch im Forschungsbereich. Aber sie bekomme so viel Aufmerksamkeit, dass sie ständig weiterentwickelt werde und die Interaktivität zunehme.
Damit werde auch die virtuelle Realität immer realer, greifbarer: „Es gibt schon für 400 Euro VR-Brillen mit Handtracking, das bedeutet, ich kann mit meiner Hand virtuelle Dinge greifen“, sagt Harth. „Derartige Produkte werden die virtuelle Realität immer realer werden lassen, weil die Menschen Selbstwirksamkeit erleben.“ Das bedeutet, dass eine Person davon überzeugt ist, eine Situation selbst steuern zu können.
Diese zunehmende Gefühlstiefe durch VR-Technologie birgt jedoch auch Risiken. In einer Untersuchung des Büros für Technikfolgenabschätzung über Status quo, Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen der Technologie von 2019 führen die Autoren neben zahlreichen Chancen auch Risiken auf. So könnte Virtual Reality auch zu einem Leben in einer Traumwelt verführen und in Isolation und Entfremdung resultieren, schreiben sie.
Das Büro benennt zudem das Risiko, dass Virtual Reality Empathie beziehungsweise die Empfindung gegenüber der Realität abstumpft. „Auch wenn die beschriebenen Risiken nicht kausal auf die Nutzung von VR zurückzuführen sind und stark von den Dispositionen der einzelnen Nutzer abhängen, ist doch davon auszugehen, dass die hohe Intensität des Erlebens virtueller Realität die beschriebenen Risiken tendenziell erhöht“, so die Autoren.
Andere Kritiker bemängeln zudem, dass die Realität in VR-Trainings oft nur stark vereinfacht gezeigt werde und Menschen in der Wirklichkeit deutlich komplexer agieren würden – von einer Darstellung der Reality ist Virtual Reality noch weit entfernt.
„Technologien sind wie immer erst einmal neutral, auch ein Hammer kann als Waffe genutzt werden“, sagt Forscher Jonathan Harth. „Wir müssen bei der Erforschung und beim Einsatz von virtueller Realität deswegen besonders aufpassen: Denn es ist ein sehr sensibles Thema, wenn das erste Mal ein Medium mit der Realität selbst spielt.“
Quelle:
Foto: VR-Brille
Einer der Gründe, warum virtuelle Welten echte Gefühle auslösen, ist die sogenannte „suspension of disbelief“, also die „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“.
https://www.handelsblatt.com/technik/digitale-revolution/digitale-revolution-im-koerper-eines-anderen-so-soll-virtual-reality-die-empathie-staerken/25556804.html?ticket=ST-6519783-qOmudYqPLMPfRsQl2Fhr-ap4