Digitale Zwillinge gelten als Schlüsseltechnologie für die Zukunft der Industrie. Sie versprechen Effizienz, Transparenz und bessere Entscheidungen. Doch in der Praxis bleibt ihr Einsatz oft auf technische Funktionen beschränkt. Was wäre, wenn wir den digitalen Zwilling neu denken? Wenn wir ihn nicht nur als datengetriebenes Abbild betrachten, sondern als interaktiven Raum, in dem Menschen verstehen, ausprobieren und gemeinsam gestalten können? Genau hier kommen XR und KI ins Spiel. Sie machen aus einer abstrakten Kopie ein erlebbares Gegenüber – und eröffnen ganz neue Möglichkeiten für Zusammenarbeit, Lernen und Innovation.
Der Begriff digitaler Zwilling ist inzwischen in vielen Unternehmen angekommen. Meist verbunden mit Industrie 4.0, Sensorik, Automatisierung. Es geht um Effizienz. Um Überwachung. Um Prognosen. Und ja, das ist wichtig. Aber es bleibt auf der technischen Ebene.
Was dabei oft fehlt, ist der Mensch.
Ein digitaler Zwilling kann mehr sein als eine datengestützte Kopie. Mit Extended Reality (XR) und Künstlicher Intelligenz (KI) beginnt ein neues Kapitel. Denn diese Technologien geben dem Zwilling nicht nur ein Gesicht. Sie machen ihn greifbar. Sichtbar. Interaktiv.
Stell dir das einmal vor
Du setzt eine XR-Brille auf und stehst mitten in deinem Werk. Nur dass du gar nicht physisch dort bist. Um dich herum die reale Produktionshalle, ergänzt durch virtuelle Einblendungen. Du siehst Maschinen, die du im echten Raum gar nicht sehen könntest. Du erkennst Wartungszustände, Temperaturverläufe, mögliche Störungen.
Und du bist nicht allein.
Neben dir steht eine virtuelle Assistenz. KI-gestützt, sprachfähig, kontextsensibel. Sie erklärt dir, warum ein bestimmtes Bauteil ausfällt, wie oft das passiert ist und was du tun kannst, um den Fehler zu beheben. Du kannst nachfragen. Du kannst hypothetische Szenarien durchspielen.
Der digitale Zwilling wird zum Lernort
Für neue Mitarbeitende kann dieser digitale Raum ein sicherer Einstieg sein. Fehler machen ist erlaubt. Wiederholen auch. Alles geschieht in einer Umgebung, die real genug ist, um Wirkung zu entfalten, und gleichzeitig geschützt genug, um Mut zu fördern.
Und hier beginnt das eigentliche Potenzial:
Ein digitaler Zwilling wird zur gemeinsamen Plattform. Für Lernprozesse. Für Entscheidungsprozesse. Für Zukunftsfragen.
Denn was heute simuliert wird, kann morgen Realität werden. Wer in XR Prozesse trainiert, ist besser vorbereitet, wenn es darauf ankommt. Wer mit KI-gestützten Assistenzen experimentiert, erkennt früher Muster. Risiken. Chancen.
Was sich dadurch verändert
- Wissen wird greifbar. Nicht nur auf Papier oder im Intranet, sondern als Teil einer real erlebbaren Umgebung.
- Teams arbeiten vernetzter. Auch über Standorte hinweg. Alle greifen auf denselben Zwilling zu, sehen dasselbe, diskutieren auf Augenhöhe.
- Innovation wird konkreter. Weil Ideen direkt im digitalen Modell ausprobiert, verworfen, verbessert werden können.
Einsatzszenarien
Wenn XR und KI zusammenkommen, verschieben sich Szenarien: Weg von passiver Datenbeobachtung hin zu aktiver Interaktion, besseren Entscheidungen und einer neuen Qualität von Zusammenarbeit.
1. Anlagenüberwachung in Echtzeit
Digitale Zwillinge spiegeln Maschinen oder ganze Produktionslinien. Sie zeigen den aktuellen Zustand, warnen vor Abweichungen und ermöglichen schnelle Reaktionen – auch aus der Ferne, etwa über XR-Brillen oder Mixed-Reality-Displays.
2. Vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance)
Sensoren liefern Daten zu Temperatur, Vibration oder Laufzeiten. Der digitale Zwilling analysiert mit KI-Algorithmen, wann ein Bauteil ausfallen könnte, und schlägt passende Wartungsfenster vor. Das spart Ausfallkosten und verlängert die Lebensdauer.
3. Training und Onboarding
Neue Mitarbeitende können an virtuellen Abbildern von Anlagen lernen, ohne den laufenden Betrieb zu stören. In XR-Umgebungen erleben sie reale Abläufe, üben Handgriffe und verstehen komplexe Prozesse besser – geführt von KI-gestützten Lernassistenzen.
4. Prozesssimulation und Optimierung
Mit digitalen Zwillingen lassen sich „Was-wäre-wenn“-Szenarien durchspielen. Änderungen an Produktionsabläufen, Materialflüssen oder Logistik werden simuliert, bevor sie umgesetzt werden. XR macht die Auswirkungen räumlich sichtbar.
5. Fabrikplanung und Umbau
Bei Neu- oder Umbauten kann der digitale Zwilling helfen, Engpässe, Sicherheitsrisiken oder Wegeführungen frühzeitig zu erkennen. Planer, Bauleitung und Betrieb können kollaborativ in einer virtuellen Umgebung arbeiten.
6. Remote Support und Fehleranalyse
Serviceteams erhalten über den digitalen Zwilling Zugriff auf Maschinendaten. In Kombination mit XR kann ein Techniker vor Ort unterstützt werden, während ein Experte remote die Lage sieht, erläutert und konkrete Anweisungen gibt.
7. Produktentwicklung und -test
Digitale Zwillinge von Produkten – ergänzt durch Nutzerfeedback und Testdaten – helfen, Varianten schneller zu entwickeln. XR-Umgebungen ermöglichen es, diese Prototypen zu begehen, zu prüfen und gemeinsam weiterzudenken.
Auch im Sales- und Beratungsumfeld eröffnen digitale Zwillinge in Kombination mit XR und KI spannende neue Möglichkeiten. Sie schaffen nicht nur beeindruckende Präsentationen, sondern auch echte Mehrwerte für Kundenbindung, Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit.
Der digitale Zwilling wird im Sales nicht zum Selbstzweck. Aber er wird zum starken Werkzeug, um Produkte erlebbar zu machen, komplexe Inhalte verständlich zu vermitteln und echte Dialoge zu führen. Kombiniert mit XR und KI entsteht ein Beratungsraum, der mehr kann als verkaufen: Er schafft Verbindung.
Produktpräsentation in XR
Statt PowerPoint und Kataloge erleben Kund:innen das Produkt als digitalen Zwilling – begehbar, drehbar, interaktiv. Maschinen, Anlagen oder technische Lösungen lassen sich in Originalgröße darstellen, sogar mit realen Betriebsdaten. Das schafft Verständnis, Vertrauen und oft auch Begeisterung.
Komplexe Lösungen anschaulich erklären
Gerade im B2B-Bereich sind viele Produkte erklärungsbedürftig. Ein digitaler Zwilling, kombiniert mit einer KI-basierten Assistenz, kann durch Funktionen führen, Fragen beantworten oder spezifische Szenarien durchspielen – verständlich, individuell, visuell.
Beratung in virtuellen Räumen
Vertriebs- und Beratungsteams treffen sich mit Kund:innen in einer XR-Umgebung, in der der digitale Zwilling als Gesprächsgrundlage dient. Probleme und Lösungen können gemeinsam erkundet und besprochen werden. Das schafft Nähe, auch über Distanz hinweg.
Konfiguration und Variantenvergleich
Kund:innen können direkt im digitalen Zwilling verschiedene Varianten, Farben, Maße oder Ausstattungen durchprobieren. In Echtzeit zeigt die KI mögliche Auswirkungen – z. B. auf Leistung, Kosten oder Lieferzeit.
Unterstützung im After-Sales
Auch nach dem Kauf kann der digitale Zwilling weiterhelfen. Etwa als interaktive Anleitung, als Teil eines virtuellen Trainings oder als Basis für Servicegespräche. Das sorgt für kontinuierliche Kundenbindung und zusätzliche Angebote.
Data-driven Selling
Wenn der digitale Zwilling mit realen Nutzungsdaten arbeitet, können Vertriebsmitarbeitende gezielt beraten: Wo gibt es Optimierungspotenzial? Welche Upgrades lohnen sich? Wo steht die nächste Wartung an? So wird Beratung datenbasiert und proaktiv.
Was es dafür braucht
Natürlich ist es nicht damit getan, eine Maschine zu scannen und in 3D abzubilden. Ein starker digitaler Zwilling braucht klare Ziele. Eine gute Datenbasis. Und eine Verbindung zu realen Prozessen.
Aber vor allem braucht er den Mut, ihn nicht nur technisch zu denken. Sondern menschlich.
Denn am Ende entscheiden nicht die besten Daten über Erfolg. Sondern die, die sie verstehen, einordnen und im richtigen Moment anwenden können.
Mit XR und KI wird der digitale Zwilling zu genau dem Raum, in dem das gelingt. Nicht abstrakt. Sondern ganz konkret.
Ein Ort zum Lernen, Forschen, Entscheiden. Ein Ort, der verbindet, was bisher getrennt war: Mensch und Maschine. Denken und Handeln. Realität und Simulation.
Und das ist mehr als eine smarte Spielerei. Es ist ein echter Fortschritt.
Quelle:
Torsten Fell