Klettern am Hochhaus vom eigenen Wohnzimmer aus: Virtual Reality sprengt die analogen Grenzen. Wie neueste Technik den Sport der Zukunft prägt.
Eine Küstenmetropole, im Sommer: Ich bin umringt von Wolkenkratzern und am Horizont sehe ich das Meer. Konzentriert und mit festem Griff klammere ich mich an zwei Backsteinen eines Hochhauses fest. Mein Blick schweift über die Stadt, dann nach unten. Bis zum Boden sind es mindestens 100 Meter. Schwindelerregende Höhe. Aber bis zum Dach ist es nicht mehr weit. Ich schaue nach oben: Wo ist ein Vorsprung, an dem ich mich hochziehen kann? Dort, eine Kante, nur ein paar Zentimeter über mir. Ich greife nach ihr, aber bekomme keinen Halt. Ich stürze. Game over.
In Wahrheit bin ich nicht abgestürzt. Denn das Hochhaus existiert nur in einer virtuellen Realität, die ein Computer simuliert. Meine Hände, die ich eben noch zum Klettern genutzt habe, halten Controller, wie man sie von Spielekonsolen kennt. Umschauen kann ich mich in dieser Welt durch eine besondere Brille. Wenn ich sie abnehme, stehe ich in einem Raum der Uni Bochum. Größer könnte die Distanz zu einer Küstenmetropole wohl nicht sein.
Ruhr-Uni Bochum lässt virtuell boxen
Solche Brillen haben es erst in einige wenige Wohnzimmer geschafft. Und doch scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die Technik in der Gesellschaft ankommt. Die Ruhr-Universität Bochum hat für rund 14.000 Euro Technik angeschafft, die den Zugang zur Welt der Virtual Reality (VR) ermöglicht, finanziert aus Fördermitteln. An der Uni nutzen Studierende diese Technik vor allem zu Lehrzwecken. In der Sportwissenschaft!
Boxen wie ein Profi vor Tausenden Zuschauern, Tischtennistraining ganz ohne Tisch und Schläger, Joggen auf dem Laufband mit Blick auf die Alpen – alles, ohne das Haus zu verlassen. Sieht so der Sport der Zukunft aus?
Ein Seminarraum als VR-Labor
Vorne ein Whiteboard. Tische und Stühle sind zur Seite geschoben. Wer den Computer und ein paar Kabel ausblendet, sieht, dass das VR-Labor der Uni Bochum ein normaler Seminarraum ist. Seit 2019 forschen sie hier daran, wie Computersimulationen den Sport bereichern können.
Daraus ist schnell ein Großprojekt geworden: „Sportlehrkräfte sind verantwortlich für heranwachsende Kinder. Deshalb sollten sie so professionalisiert sein, dass sie mit neuen Technologien umgehen können“, sagt Professorin Antje Klinge. Sie leitet den Teil des Großprojekts, der sich mit VR beschäftigt. Boxen, Tennis, Klettern, Schwimmen – viele Sportarten sind in einer virtuellen Version im Bochumer Seminarraum möglich.
Wie Profisportler Virtual Reality nutzen
Auch im Profisport machen sich Vereine längst die Technik zunutze. In den USA trainieren Profisportler schon seit Jahren im virtuellen Raum, vor allem beim Basketball, Baseball und American Football. Auch bei den deutschen Profis ist die Technik zum Teil schon angekommen. Der Deutsche Fußball-Bund setzt Virtual Reality bei den Juniorenmannschaften ein.
Durch die VR-Brille sehen Sportlerinnen und Sportler das Spielfeld so, wie sie es in echt sehen“. „So wird eine spielentscheidende Situation simuliert, in der der Sportler entscheiden muss, wohin er blickt, läuft oder den Ball abspielt.“
Die Vorteile: Eine Mannschaft kann in der spielfreien Zeit trainieren, während die Spieler nicht an einem Fleck sind. Und verletzte Sportler können zumindest taktisch trainieren, obwohl sie noch nicht fit sind.
Mit dem Laserschwert in einer abstrakten Welt
Mit der VR-Brille auf der Nase bin ich wieder in der digitalen Welt. Das Hochhaus ist verschwunden. Jetzt ist meine Umgebung abstrakter, dunkelblau, durchzogen von roten und blauen Laserstrahlen. „Willkommen zurück im Wunderland“, denke ich. In meiner linken Hand halte ich ein rotes Lichtschwert, in der Rechten ein Blaues.
Der Beat eines Rock-Songs setzt ein. Rote und blaue Würfel fliegen auf mich zu. Passend zum Rhythmus muss ich den richtigen Moment abpassen, um zum Schlag auszuholen. Eine schnelle Bewegung mit beiden Armen von oben nach unten und die ersten beiden Würfel sind zerstört. Ein Würfel folgt dem Nächsten. Jetzt schlage ich von links nach rechts, so wie es mir die Pfeile auf den Blöcken angeben.
Manchmal mache ich es intuitiv anders und verpasse die richtige Schlagrichtung. Doch meine Bewegungen passen sich schnell dem Rhythmus der Musik an. Als der letzte Ton erklingt, merke ich, wie sehr ich in dieser abstrakten Welt versunken war.
Auf Schweiß kommt es nicht an
Die Ruhr-Uni Bochum nutzt VR ganz anders als professionelle Sportvereine. Oft fühlen sich die Übungen im virtuellen Raum nicht wie realer Sport an, denn anstrengend sind sie nur für den Kopf und selten für den Körper. Viele Anwendungen sprengen die Grenzen analoger Sportarten. „Bewegen, Kalorien verbrennen, schwitzen – viele denken, dass Sport so auszusehen hat. Und dass VR-Brillen nur dann legitim sind, wenn Sportler damit auch ordentlich schwitzen“, meint Medienwissenschaftlerin Nicola Przybylka, die ebenfalls beim VR-Projekt mitwirkt.
Zusammen mit Antje Klinge will sie mit diesem Sportverständnis brechen: „Es geht darum, neue Sinne und Körpererfahrungen kennenzulernen, und nicht um Schweiß und den Wettkampfgedanken“. Das soll Schüler in ihrer Persönlichkeitsentwicklung voranbringen: „Es soll keine Bankwärmer geben, die sich schämen müssen, weil sie als letztes gewählt werden“, ergänzt Klinge.
Entwickler von VR-Geräten setzen auf spielerischen Reiz
Auch Entwickler von VR-Geräten und -Anwendungen wollen oftmals nicht nur den Sport aus der echten Welt nachahmen, sondern diesen mit einem spielerischen Reiz verknüpfen. So macht es auch das Münchner Unternehmen „Icaros“, das Fitnessgeräte mit VR-Option herstellt. Die Geräte stehen schon jetzt in einigen Reha-Praxen und Fitnessstudios, aber auch in manchen Wohnzimmern.
Dadurch wird der Unterschied zwischen Sport mit VR-Technik und E-Sports an der Konsole besonders deutlich: Bei diesen Computer- und Videospielen sitzen Nutzer vor einem Bildschirm, während sie nur die Finger am Controller bewegen. Beim VR-Sport bewegen sie sich meist mit dem ganzen Körper und stehen in einem virtuellen Raum.
Das Flaggschiff des Unternehmens ist ein Gerät für mehrere Tausend Euro,in dem sich Nutzerinnen und Nutzer in Unterarmstütz-Position auf einem Gestell hin- und herbewegen, je nachdem, wie sie ihr Gewicht verlagern. Ziehen sie dabei eine VR-Brille auf, können sie virtuell durch die Tiefen des Ozeans schwimmen oder mit futuristischen Flugzeugen über die Alpen fliegen.
Beim Online-Spiel „Icarace“ können sie auch gegeneinander antreten und als Piloten in einer Rennliga um die Wette fliegen, seit 2018 sogar bei einer Weltmeisterschaft.
Auf den Geräten ließen sich Bauch- und Rückenmuskeln trainieren, sagt Geschäftsführer Johannes Scholl. Auch die Koordination werde geschult. Richtig ins Schwitzen kämen Nutzer aber in der Regel nicht – und das findet Scholl gut so: „Eine halbe Stunde ein VR-Headset auf der Nase und dabei einen Puls von 140 zu haben, das macht nicht viel Sinn. Dann beschlagen die Linsen und es wäre auch nicht hygienisch, das Headset vollzuschwitzen.“
Werden VR-Brillen zur Bedrohung für Sportvereine und Fitnessstudios?
Deswegen wehrt er sich gegen den Gedanken, den „echten“ Sport zu ersetzen. Virtual Reality biete Möglichkeiten, das Training effektiver und motivierender zu gestalten. „Aber deswegen muss man nicht aufhören, draußen laufen zu gehen.“
Auch VR-Experte Andreas Hebbel-Seeger sieht in der Technik keine Bedrohung für Sport im Freien, für Fitnessstudios oder Sportvereine: „Die Virtualisierung bildet nur etwas ab. Sie nähert sich der Realität an, ist aber nicht so gut wie das Original.“ Oft sei die virtuelle Realität nur ein Kompromiss: „Wer in der Stadt wohnt, aber in den Bergen Fahrrad fahren will, kann das mit VR auf dem Hometrainer simulieren. Würden sie aber in den Bergen wohnen, würden sie eher draußen fahren.“
So merke auch ich während der Übungen an der Uni Bochum, dass VR-Sport anders ist als das, was ich aus dem Fitnessstudio oder vom Tennisplatz kenne. Wenn ich die Brille abnehme, brauche ich einen kurzen Moment, um wieder in der Realität anzukommen. Ich muss mich erstmal sammeln und die virtuellen Eindrücke verarbeiten.
Ich verlasse den Seminarraum und merke, dass ich während der Übungen nicht ins Schwitzen gekommen bin. Schwer fühlen sich meine Arme nicht an. Vielmehr hat mich der VR-Sport kognitiv gefordert. Denn besonders meine Sinne Sehen, Hören und Fühlen hat die virtuelle Welt intensiver gereizt als der analoge Sport.
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Sport treiben mit Headset und Controller – sieht so der Sport der Zukunft aus? Volontärin Luisa Herbring hat die Virtual Reality-Technik an der Uni-Bochum getestet.
Foto: Lisa Dießner/Lena LengneR